Klara Li wohnt in einem der letzten Häuser in Prenzlauer Berg, das noch nicht saniert ist. Anders als das Haus gegenüber, dem alle Poren mit gelber Wandfarbe zugekleistert sind, atmet das alte Haus noch und der Ausatemluft ist der Geruch von Brackwasser, Rattengift, Kohlen, Einkellerungskartoffeln nebst einem Hauch Pisse beigemischt. Da geistern noch das Kind, das sich mit dem Schlüssel bis in den vierten Stock an den Wänden entlangkratzte, die Rotarmisten, die die Maschinengewehrgarbe unter den Erdgeschossfenstern hinterließen und Hunderte von Mietern, die im Winter des nachts noch aufs Außenklo mussten, durch die Lüfte. Das Haus ist älter als die Erfindung der Podesttoiletten. Der Lokus auf dem Hof ist freilich schon seit neunzig Jahren nicht mehr da, stattdessen hat man Wandeckschränke auf die Etagen gebaut, wo dicke Personen sich rückwärts hineinschieben müssen, um vorwärts wieder herauszukommen. Klara Li ist so dünn, dass sie zweimal in ihren Toilettenwandschrank passt. Die Türen zu ihrer Behausung, die mehr ist als eine Wohnung, stehen offen, die Kunst hat sich selbständig gemacht und ist langsam übers Treppenhaus unters Dach und vier Etagen nach unten gewandert wie ein süßer Brei. Manchmal macht Klara Li aus ihrem Wohnzimmer Amaranthas Salon, wo sie singt oder andere reden, musizieren oder ausstellen lässt. Klara Li ist sich selbst Ausstellung genug. Sie sitzt in einer Tasse, mit einem Krönchen auf dem Kopf. Die Untertasse ist am Papier festgenäht mit Kreuzstichen. Klara Li ist die Kreuzstichfrau als Gesamtkunstwerk. Kann sein, dass sie mit dieser Technik auch Menschen hält. ich sticke ein sieb in dein herz. Früher soll sie mal Schaftstepperin gewesen sein. Das klingt nach einem Bauerntanz, war aber ein seriöser Beruf und noch heute erkennt man Klara Li, wenn man nur ihre Schuhe sieht. Manchmal kommen Schülerinnen, um in ihrem riesigen Fundus zu fischen und beim Taschennähen zu singen. schneidernd singen+++ratternd klingen schreibt Klara Li in ihre e-mails und lebt nur recht und schlecht von ihren juwelen aus rotz und müll. Wenn gar nichts mehr hilft, verkauft sie Brot vom Vortag oder macht Lose daraus, die sie verkauft. Die Miete war bisher eins der kleineren Probleme.
Dahin. Dahin.
Heute muss Klara Li ausziehen, denn das Haus lässt sich mit Podestklo und alten Fensterkreuzen, zehnmal überstrichenen Dielen, gelbbauchigen Kachelöfen und tröpfelndem Wasserhahn nicht marktgerecht verwerten. Was wie das letzte besetzte Haus aussah, ist eben doch nur eine x-beliebige Immobilie.
Zur Wohnungsfinissage hat Klara Li zur Musik eines Cellos mit Steinen geklappert und noch einmal gesungen, lauter wunderliche Gedichte, die aus den Ritzen der Mauern zu kommen scheinen und sich nur im Gesang entfalten. Amaranthas Malöhr hat Klara Li das genannt.
An diesem Sonntag tragen wir Amaranthas Salon Stück für Stück auf den Hof. Die gemieteten Muskelmänner ärgern sich. Alles Schrott und Krempel, was sie da die vierundsechzig Stufen runtertragen. Sie erzählen von dem Mann, der beim Umzug seine vor zehn Jahren abgelaufenen Büchsen vier Etagen runter und vier Etagen rauftragen ließ. Sie sagen das mit einem Seitenblick auf Klara Li, die nur leere Büchsen aufhebt, keine mit überfälligem Inhalt. Klara Li hebt viel auf, was andere nicht mehr brauchen. Aus fünfzehn unbrauchbaren Sachen lässt sich immer noch ein Kunstwerk machen und manchmal liegt die Geschichte des verwendeten Gegenstands Jahrzehnte zurück. Bänder, Spitzen, Pailletten, Perlen, Folien, Garne, Papier, Holz, Pappe, Gold und Platin quellen aus den Zimmern und vom Dachboden und poltern schließlich am Arm der Muskelmänner die Treppe hinunter. Die Muskelmänner können nicht mehr zwischen dem Sperrmüll vor den Mülltonnen und den Schätzen Klara Lis unterscheiden. Vielleicht wollen sie es auch nicht. Sie sind Einbauküchen gewohnt und sauber zerlegte Schlafzimmer. Das einzige, was sie versöhnt, ist die Tatsache, dass die Tüten leichter sind als Bücherkisten. Ich packe vorsichtig den Wandvorhang aus Notizzetteln ein, eine Notiz an der nächsten mit Kreuzstichen festgehalten, Informationen, die nur noch sich selbst als Adressaten haben und zusammen ein Jahr ergeben oder zwei. Vergangene Alltage zwischen Einkaufslisten und Kindergekrakel. Keine Ahnung, sagt Klara Li, wo das alles hinsoll. In den Keller vielleicht. Oder in den Computer als BEFEHLE UND MENÜS. Unten stapeln die Muskelmänner die Kisten und Kästen in einem Umzugswagen und laden sie zwei Straßen weiter wieder aus. Klara Li ist mit ihrem Sohn bei den Obdachlosen untergekommen, die sich selbst ein Haus renoviert haben. Es hätte auch schlimmer kommen können.
In der Schönhauser Allee bleibt von Klara Li nur noch ein Schild am Eingangstor, zusammengehalten mit Kreuzstichen.
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