Jedes Jahr, bevor ich in die Ferienreise, befällt mich eine eigenartige Sehnsucht, in Berlin zu bleiben. Vorausgesetzt das Wetter ist kalendergemäß, haben Sommerabende in Berlin etwas seltsam Friedliches, vor allem, wenn das späte Abendlicht in die Nebenstraßen fällt und die Häuser lange Schatten auf die Straßen werfen, die in manchen Gegenden fast menschenleer sind. Das Telefon klingelt selten, der Terminkalender ist leer, und ich könnte mir vorstellen, den Sonnenblumen auf dem Balkon vierzehn Tage beim Blühen zuzusehen und nur abends, wenn es dunkel wird, in den Friedrichshain zu gehen, wo die Daheimgebliebenen ihre Grillfeste veranstalten oder bis in die späte Nacht Fußball spielen, bis der ohnehin schon kaum noch sichtbare Ball irgendwo in den Büschen verschwindet.
Aber dann fahre ich doch wieder weg, verbringe zwei Tage auf überfüllten Autobahnen, um es am Ende am Meer nicht auszuhalten, weil die Sonne zu heiß ist und man den Sand vor lauter Leuten nicht sieht. Auch in diesem Jahr war es nicht anders, und als ich nach Hause zurückkehrte, hatten die Sonnenblumen, die ich das ganze Frühjahr über aufgepäppelt hatte, ohne mich geblüht und meine Nachbarin übergab mir die Post, die wie immer nur aus Rechnungen bestand. In Berlin war es so heiß wie in Italien, die Stadt kam mir seltsam matt vor, es schien mir, als führen selbst die Autos wegen der Hitze langsamer die Greifswalder Straße hinunter. Die Verkäuferinnen hatten große Ventilatoren neben ihre Kassen gestellt, die nur den Zweck erfüllten, das Geld in der Kasse durcheinander zu wirbeln. Ab und an schauten sie in den Himmel hinter den Schaufenstern und baten um ein abkühlendes Gewitter, das aber nicht kam. Nur gegen Abend täuschten ein paar zusammengeballte Wolken die Ankunft von Regen vor.
In der späten Abendsonne saßen rotgesichtige Männer vor der Kneipe Danziger/Ecke Greifswalder, wo der Wirt mit Hilfe eines schmalen Streifens Kunstrasen und Pflanzgittern, an denen nichts hochranken will, jedes Jahr zwischen Frühjahr und Herbst eine Gartenidylle vortäuscht. Dabei sitzt man dort fast auf der Kreuzung. Der Schweiß tropfte ihnen auf T-Shirts, auf denen NOTARZT oder POLIZIST stand, ein paar Ältere trugen auch das, was man früher Campinghemden nannte, die über den Bäuchen spannten und nur mühsam von Knöpfen zusammengehalten wurden. Vor dem Hitzschlag rettete sie nur die Markise über ihren Köpfen. Ich setzte mich auf den Balkon und fing an, die Zeitungen von vierzehn Tagen durchzublättern. Wie jedes Jahr kam ich nicht weit. Es ist sinnlos, alte Zeitungen zu lesen. Man ärgert sich Tage später über Sachen, die längst Geschichte sind. Ich habe nur einmal sehr lachen müssen, als ich erfuhr, dass der ehemalige Bezirkssekretär der SED, Günter Schabowski, jetzt Berater des CDU-Bürgermeisterkandidaten ist. Da wird er ihm wohl beibringen, wie man mit feudalistischen Mitteln Berlin regiert. An seine Regentschaft als Bezirksfürst können sich viele Berliner noch sehr gut erinnern. In Berlin werden politische Entscheidungen, ob nun Tragödien wie die Mauer oder Farcen immer gern Mitte August getroffen, wo die Berliner nicht in der Stadt weilen.
Abends ging ich ins Freiluftkino auf der Museumsinsel. Es schien, als seien alle Leute, die in Berlin weilten, an diesem Abend in der Nähe des Hackeschen Marktes versammelt. Auf den Wiesen lagen sie dicht gedrängt wie an den Stränden des Mittelmeers, und auf der Brücke an der Burgstraße starrten Leute auf einen Punkt im Wasser, dabei lag die Spree so still als sei sie ein Binnensee, und nicht ein Schiff kam vorbei. Nur Herbert, der alte Stadtflaneur, ging gemessenen Schritts durch die Massen und war in Gedanken versunken. An heißen Tagen hat er immer ein Handtuch um den Hals, mit dem er sich ab und an das Gesicht und den Nacken abtupft, bevor er weiter seiner Wege geht.
Auf dem Gelände des Freiluftkinos lagen Hunderte Cineasten in Liegestühlen und beklatschten jedes Lied des jugendlichen Helden auf der Leinwand, der Elvis hieß, währenddessen die Kinder gelangweilt das UNESCO-Weltkulturerbe bekletterten, bis sie vom Wachschutz zurechtgewiesen wurden. Über dem Fries der Nationalgalerie, wo eine Göttin ihre Arme wie Fittiche schützend über die Putten zu ihren Füßen hält, stand der Große Wagen, und die allegorischen Figuren hinter der Leinwand warfen gespenstische Schatten auf die Fassade. Die Idylle wurde alle fünf Minuten von Zügen durchbrochen, die über die Spreebrücke donnerten und dem vor sich hinnuschelnden Elvis den Ton wegnahmen. Ich ging, noch bevor der Film zu Ende war. Hinter der Absperrung tanzten junge Leute, die sich eine Kinokarte nicht leisten konnten, Rock ´n Roll auf der Straße, misstrauisch beäugt von zwei Touristenpaaren, die so alt waren wie Elvis heute wäre, wenn er nicht so einen ungesunden Lebenswandel gehabt hätte.
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