Am 26. Juni 1968 schreibt Hannah Arendt an Karl und Gertrud Jaspers: "Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848." Keine Ahnung, was den deutschen Gymnasiasten der zwanziger Jahre im Geschichtsunterricht über das Jahr 1848 vermittelt wurde. Zu Beginn des Jahres 2008 war ja eher das Bonmot im Umlauf, die einzige Errungenschaft der 1848er sei die Aufhebung des Rauchverbots auf den Straßen gewesen, das nun peu à peu wieder eingeführt wird.
Zwar sind weder 1848 noch 1968 die Hauptziele der Revoltierenden erreicht worden, trotzdem wirkten die Bewegungen und die durch sie in Gang gesetzten oder beschleunigten Modernisierungsschübe weit in die Zukunft hinein. Ausgangspunkt waren immer restaurative Verhältnisse, ob sie nun Biedermeier oder Nachkriegsgemütlichkeit hießen.
Über die 68er, die ja, wie Norbert Frei in seinem Buch 1968. Jugendrevolte und globaler Protest erwähnt, erst seit 1983 so heißen, ist ermüdend viel geschrieben worden, zuletzt sorgte die These für Schlagzeilen, sie seien nichts weiter als Postfaschisten gewesen, vergleichbar mit der Jugendbewegung der 33er, und es gibt besorgte bis genervte Stimmen, die fragen, was denn zum nächsten Jubiläum kommen wird.
Der Berliner Historiker Frei gibt in seinem Buch einen Überblick über die weltweiten Ereignisse des Jahres 1968 und sucht nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten der nationalen Proteste, die sich von den USA über West- und Osteuropa bis nach Japan hinzogen. Die jugendlichen Protestierer hörten überall die gleiche Musik, trugen die gleiche Mode, probierten sexuelle Freizügigkeit und übertrugen die amerikanische Idee der Sit-Ins, Go-Ins und Teach-Ins in ihre jeweiligen Sprachen.
In unterschiedlicher Weise war 1968 ein Kulminationspunkt, eine unerwartete Beschleunigung - wie noch einmal 1989 -, aber nicht der Beginn, denn die antiautoritären Bewegungen hatten ihren Anfang in vielen Ländern schon Ende der fünfziger Jahre. Für die Bundesrepublik werden die eigentlichen Ereignisse, die heute unter dem Begriff "68" zusammengefasst sind, zwischen der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke Gründonnerstag 1968 verortet, während die amerikanischen Proteste früher anfingen und eng mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung verbunden waren. Frei geht auch der Frage nach, "inwiefern der linke Terrorismus als ein spezifisches Problem der einstigen Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen sei". Er weist nicht von der Hand, dass "die Protestbewegungen in Japan, Italien und der Bundesrepublik immer wieder an vergangenheitspolitische Lasten rührten, die andernorts in dieser Schärfe tatsächlich nicht gesehen wurden", ist aber weit davon entfernt zu behaupten, es hätte einen geraden Weg von Sit-Ins zu Geiselnahmen gegeben.
Bei allen Unterschieden ähnelten sich die weltweiten Bewegungen in zwei Punkten, dem Protest gegen den Vietnamkrieg und der Unzufriedenheit mit den Zuständen in den Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Universitäten. Immer eskalierte die Situation, ob in den USA, der Bundesrepublik oder Polen, wenn die Rektorate der Universitäten unangemessen reagierten, indem sie nach staatlicher Gewalt riefen. Nur die Amsterdamer Polizei übte sich in Deeskalation. In Prag dagegen wurde der Traum eines demokratischen Sozialismus zerschlagen, der mehr als eine Jugendbewegung war. Leider handelt Frei den Osten auf 18 Seiten ab und erwähnt nur Ereignisse in der CSSR, Polen und der DDR. Interessant wäre hier beispielsweise auch die jugoslawische Studentenbewegung gewesen, standen sich doch einige der Protagonisten zwanzig Jahre später auf unterschiedlichen Seiten des Bürgerkriegs gegenüber.
68er-Überblickgeschichten der deutschen Ereignisse bedienen sich reichlich der überlieferten und quasi zu zwei Bildern eingefrorenen Ikonografie, zum einen ist es das Foto des sterbenden Benno Ohnesorg und zum anderen das der barbusigen, schmollmündigen Uschi Obermeier. Freis Buch ignoriert das auf angenehme Weise. Zwar wird auch bei ihm jedes Kapitel von einem Foto der Ereignisse eingeleitet, aber vor allem zwei dieser Abbildungen sind beeindruckend: das Foto des nahezu menschenleeren Schlachtfeldes in einer Straße des Quartier Latin nach den Pariser Unruhen am 11. Mai 1968 und das der jungen Prager, die in einer Mischung aus Fassungs- und Ratlosigkeit auf die sowjetischen Panzer schauen, die am 21. August 1968 ihre Straßen verstopfen.
Das Pariser Foto ist aus der gleichen Perspektive aufgenommen, die auch Frei einnimmt, die eines aus der Vogelperspektive agierenden Beobachters, der sich der Wertungen weitestgehend zu enthalten versucht, sieht man davon ab, dass er offensichtlich die Rolle Norman Mailers in den amerikanischen Studentenunruhen als Zumutung empfindet. Anders als einige der Protagonisten, die wie damals, nur mit umgekehrten ideologischen Vorzeichen, das Kind mit dem Bade ausschütten und der Bewegung Fanatismus, Egoismus Terrorismus und Totalitarismus vorhalten, ist Freis Fazit eher wohlwollend, die Forderungen der 68er nach Emanzipation, Partizipation und Transparenz veränderten nach seiner Einschätzung die Gesellschaft nachhaltig, auch angesichts der Tatsache, dass 1968 noch 55 Prozent der Bundesdeutschen der Aussage zustimmten, dass der Nationalsozialismus eine gute Idee sei, nur eben schlecht ausgeführt. "Auch nach vier Jahrzehnten", so Frei am Ende seines Buches, "ist 68 nicht ausgedeutet, sondern weiter in Bewegung, noch immer eher Gegenwart als Geschichte."
Eine Gesamtdarstellung des Jahres 1968 in der DDR gab es bisher nicht. Es ist verdienstvoll, dass sich der Historiker Stefan Wolle mit seinem Buch Traum von der Revolte die Arbeit gemacht hat, aus Archivdokumenten, Teilanalysen und Zeitzeugenberichten eine Chronik der Ereignisse zusammenzustellen, die mehr ist als das.
Für ihn (wie auch für Frei) war Prag 1968 im Gegensatz zu Einschätzungen anderer Historiker, nicht folgenlos. "Nach Prag, so lässt sich argumentieren, kam der kommunistische Machtblock nicht mehr zur Ruhe", schreibt Frei. Wolles Perspektive auf die Ereignisse ist freilich eine ganz andere als die seines Kollegen. Er erzählt mitten aus der Menge und mit Empathie die Geschichte eines Jahres in der DDR, in dessen Mitte der Traum eines demokratischen Sozialismus erstickt wurde, von dem danach niemand mehr sagen konnte, ob er nicht ein Widerspruch in sich war.
Der Sommer gilt im Allgemeinen als Sauregurkenzeit für Meldungen. Das ist einigermaßen unverständlich, kamen doch die unangenehmen politischen Überraschungen immer genau in dieser Jahreszeit, wenn alle im Urlaub waren. Das war 1914 so, 1939, 1961 und 1968. Am 21. August 1968 "flossen viele Tränen. Immer wieder stößt man in Erzählungen auf diese einfache und schlichte Reaktion", so Wolle in seinem Prolog Das Ende der großen Ferien: "Es war der Tag der Wut und Trauer über die Unbelehrbarkeit der Sowjetführung für viele war es auch ein Tag der Angst. ... In der Küche stand meine Großmutter über das Abwaschbecken gebeugt und weinte still vor sich hin. Immer wenn die Ernte vom Halm ist, gibt es Krieg, schluchzte sie" und gibt damit den Ton des Buches vor.
Wolle beschreibt die Widersprüche der sieben Jahre zwischen dem Mauerbau 1961 und 1968, die zum einen Zeiten wirtschaftlicher Reformen zum Zwecke der Modernisierung und zum anderen, und vor allem nach dem 11. Plenum der SED 1965, Zeiten kultureller Repression waren. Eigenverantwortung in der Wirtschaft stand einer lächerlichen Bevormundung der Künstler und Kulturschaffenden gegenüber. Beide Seiten sind mit dem Namen Walter Ulbricht und seiner ambivalenten Rolle zwischen Wirtschafts- und Machtpolitiker verbunden. Die wirtschaftlichen Reformen scheiterten Ende der sechziger Jahre. "Am Ende der Umbauphase standen noch mehr Bürokratie, Zentralismus und ideologische Gängelei", so Wolle. Der Blick auf die Ereignisse des Nachbarlandes CSSR war vor allem für die Jüngeren mit viel Hoffnung verbunden. Ihnen und ihrer Kultur zwischen Beat, Sex und FDJ-Versammlung widmet der Autor einen Großteil des Buches.
Die Fülle der ausgewerteten Quellen, darunter auch eher unbekannte wie zum Beispiel "Vorkommnisse rund um den Humannplatz im Ostberliner Problemviertel Prenzlauer Berg" 1966 ist beträchtlich und Wolle gelingt es, ein differenziertes Bild dieser Zeit zu beschreiben, nicht in schwarz-weiß, sondern in ORWO-Color. Viele dieser Zusammenkünfte Jugendlicher unterschieden sich kaum von denen Gleichaltriger im Westen und wie diese hegten sie nur geringe Sympathien gegenüber Uniformierten. Die Konsequenzen des Widerstandes waren aber meistens härter als in der Bundesrepublik. Viele, auch ältere DDR-Bürger, schauten mit Wohlwollen auf das "tschechische Experiment", kritisch beäugt von der Staatssicherheit.
Wolle widmet ein Kapitel den Verbindungen der APO zu DDR-Intellektuellen, wobei ihm eine diffenzierte Einschätzung ersterer nicht gelingt, was allerdings auch nicht sein Hauptanliegen war. Deren Wahrnehmung im Osten stellt er dagegen in ihrer Vielschichtigkeit dar, die die "geistigen Fronten" gründlich durcheinanderwirbelten, denn zeitweise brachten nicht nur junge, unangepasste DDR-Jugendliche und Intellektuelle Sympathien für die revoltierenden APO-Anhänger auf, sondern auch die SED in ihrer Beherrschung der "dialektischen Kunst des Doppelspiels". Der Tod Benno Ohnesorgs war für die DDR-Regierung "ein Beweis für den potentiell faschistischen Charakter des westdeutschen Staates." Andererseits fürchtete die SED den Einfluss der antiautoritären Studentenbewegung auf junge Menschen, vor allem Studenten, in der DDR und versuchte, direkte Kontakte zu unterbinden. Die APO wiederum musste sich in Bundesrepublik dagegen wehren, sie sei "von Ulbricht geschmiert".
Der Prager Frühling wurde auch mit Hilfe der DDR und ihrer Regierung niedergeschlagen, was Wolle minutiös nachverfolgt. Äußerlich gesehen blieb es in den Tagen des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes in der CSSR in der DDR ruhig, aber unter der Oberfläche brodelte es. Nicht nur die bekannten Proteste der Kinder prominenter Intellektueller und hoher Staatsfunktionäre wie Thomas Brasch und Frank und Florian Havemann, von Wolle "Jeunesse dorée" genannt, werden von ihm ausgewertet, sondern auch die unbekannter und somit nicht durch Prominenz geschützter, zumeist junger Menschen, die bei Verhaftung mit weitaus härteren Strafen zu rechnen hatten.
Gegen 980 Personen wurden nach dem 21. August Ermittlungsverfahren wegen Widerstandsaktionen eingeleitet. Der Rest musste vorgefertigte Erklärungen unterschreiben, in denen die Konterrevolution verurteilt wurde. Viele taten es achselzuckend. Es war nichts Neues und es war auch nicht zum letzten Mal. Am Ende geht Kafka durch das Buch, dessen Name in der DDR Attribut wurde, bevor er überhaupt offiziell gelesen werden konnte. Kafkaesk waren auch die Umstände um das Gerücht, dass die Rolling Stones am Nationalfeiertag der DDR 1969 auf dem Springer-Hochhaus spielen sollten. Es entsprach nicht der Wirklichkeit, aber Jugendliche und Staatsmacht trafen sich am vereinbarten Ort, der Mauer, zum Krawall. Es war der Tag der Halbzeit im Leben der DDR.
Die Protagonisten der Bewegung für einen demokratischen Sozialismus bekamen bis zum Ende keine Macht in der DDR. Auch ein Generationswechsel fand nach 1968 nicht mehr statt. In Wolles Buch schwingt eine untergründige Trauer mit, die eines Historikers, der mehr als ein nur teilnehmender Beobachter der Ereignisse war.
Norbert Frei 1968 - Jugendrevolte und globaler Protest. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2008, 280 S., 15 EUR
Stefan Wolle Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Chr. Links, Berlin 2008, 250 S., 19,90 EUR
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