Lückenschluss

Berliner Abende Der ältere Mann streckt sich, presst das linke Ohr an die Fensterscheibe und sagt sehr feierlich zu dem Mann gegenüber: "Welch ein Sound, erinnern ...

Der ältere Mann streckt sich, presst das linke Ohr an die Fensterscheibe und sagt sehr feierlich zu dem Mann gegenüber: "Welch ein Sound, erinnern Sie sich?" - "Natürlich" sagte der andere Mann, "dieses dongdong dongdong ist bei den Neuen verlorengegangen." Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt an Madame Eva denken muss. Madame Eva ist mindestens dreißig Jahre älter als die Männer, und sie hatte 1933 Berlin verlassen müssen. Vielleicht ist es der Museumszug mit seinen Raucherabteilen oder die alte Frau mit dem Kompotthütchen, die sich zwischen Schönhauser Allee und Gesundbrunnen an meiner Jacke festklammerte, weil ihr Arm nicht bis an die Haltestange reichte. Aber auch diese Frau war mindestens zwanzig Jahre jünger als Madame Eva. Ja, sie erinnere sich noch an einige Sachen, hatte Madame Eva im Februar in New York zu mir gesagt. 1918 hielt man ihre Mutter bei einem Spaziergang im Tiergarten für Rosa Luxemburg und wollte sie verhaften, aber es gab schon eine Rosa Luxemburg im Gefängnis. Damals stand ein hölzerner Hindenburg mitten im Park, mit Nägeln bestückt. Die armen Patrioten, die nicht genug Geld hatten, um Kriegsanleihen zu zeichnen, konnten sich einen Nagel kaufen, der Erlös wurde in den Bau neuer Kanonen oder die Herstellung von Giftgas gesteckt. Eine gute Idee, dachte ich seitdem. Das arme Land Berlin stellt statt der hässlichen Bären, die die Straßen verschandeln, hölzerne Bürgermeister und Senatoren in den Straßen auf, in die Besucher und Einheimische kleine Nägel schlagen dürfen, die sie vorher bei einer "Hilfe-zur-Arbeit"-Kraft erworben haben. Der Erlös wird in Kultur und Bildung gesteckt. Einmal, erinnerte sich Madame Eva, habe eine Fahrkarte mit der S-Bahn zehntausende Mark gekostet. Da war der ältere Mann mir gegenüber noch nicht auf der Welt. "Sogar aus dem Fenster sehen kann man, nichts ist zerkratzt." - "Ja die Museumsbahn, die wird auch bewacht." Draußen wechseln sich graue Sozialwohnungsbauten, an deren winzigen Fenstern Kinder sich die Nase plattdrücken, mit Fabrikruinen und Brachen ab. Zwölf Jahre brauchte die S-Bahn für die Erneuerung der Ringbahn, der Strecke ohne Ende, man munkelte schon, es sei ein Bau ohne Ende. Ein Fass ohne Boden war es ohnehin. Zuletzt fehlten noch ein paar hundert Meter, die Wedding von Moabit und Charlottenburg trennten. Man stelle sich das mal für die Straßen vor, die Autofahrer hätten schon 1992 Hupkorso veranstaltet, die lauter gewesen wären als die der Berliner türkischen Gemeinde, wenn die Türkei Fußballweltmeister geworden wäre.
An diesem Abend bin ich mitten in der Nostalgie gelandet. Streckeneröffnungen, Sonderfahrten und Dampflokomotivausstellungen locken Leute aus der Ursuppe der Stadt, die man sonst nie als Menge erlebt. Es sind vorwiegend ältere Männer ohne Anhang. Die Einsamkeit hat sich tief in ihre Gesichter geschnitten, über ihren Bierbäuchen tragen sie T-Shirts, auf denen "S-Bahn GmbH" oder "Durchgehender Nachtverkehr" steht. Sie stehen mit Videokameras oder teuren Fotoapparaten am Ende des Bahnsteigs, brüllen sich gegenseitig mit "Aus dem Weg" an, weil jeder die einfahrende S-Bahn mit der Aufschrift "Vollring" in die Mitte des Bildes bekommen will. Besonders schlimm ist es am Westhafen, weil man von hier aus bis zur Station Beusselstraße sehen kann. Die meisten der Männer werden Schwierigkeiten mit dem Alltag haben, die Bauserien der ankommenden S-Bahnen können sie am Geräusch unterscheiden. Am Sonderentwerter stehen sie nach Stempeln an und vergleichen hinterher die Korrektheit des Aufdrucks penibel. Ein leicht verrückter Mann weint, als er in den nächsten Zug steigt. "Ich war fünf, als sie das letzte Mal fuhr. Dann haben die die blöde Mauer gebaut. Freuen Sie sich nicht auch?", fragt er die Frau mit den bläulich schimmernden Haaren, die sich neben ihn setzt. "Is schon schön", sagt sie, "wir sind immer abends mitgefahren, um uns in Ruhe zu küssen, weil mein Mann und ich so viele Geschwister hatten. Aber der Rudolf ist nun auch schon zehn Jahre tot." Dann dreht sie sich weg und der Verrückte schaut aus dem Fenster. Ein alter Mann filmt sich selbst und spricht in die Linse: "Eben noch im Traditionszug, steigen wir Westhafen aus und sind nun auf dem Weg zum Gesundbrunnen." Die jungen Leute in T-Shirts auf denen "S geht los", "Herr des Rings" oder "Ring frei" steht, kichern. "Der hält das für die Nachwelt fest." - "Aber wer ist die Nachwelt?"
Gern würde ich mit Madame Eva mal eine Vollringfahrt machen. Als sie Berlin verlassen musste, gab es zwar die elektrifizierte Ringbahn, den Vollring als Linie aber noch nicht. Der Zug fuhr an der Papestraße in die Spitzkehre bis zum Potsdamer Bahnhof. Erst als Bomben die Gleise an diesem Gleiskreuz gründlich zerstörten, nahm die Bahn den ganzen Ring.
Aber selbst wenn Madame Eva noch einmal einen Fuß auf Berliner Boden setzen würde - sie fährt lieber mit dem Bus.

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