Neuköllnstar

Berliner Abende Schon das dritte Jahr machte die Volksbühne kurz vor den Sommerferien einen Ausflug in theaterresistente Gegenden Berlins. Inzwischen hat sich das ...

Schon das dritte Jahr machte die Volksbühne kurz vor den Sommerferien einen Ausflug in theaterresistente Gegenden Berlins. Inzwischen hat sich das Theater auf der Brache neben der Autobahnbelüftung in Neukölln ein festes Plätzchen eingerichtet, wo die Zuschauer bei klarem Wetter über den Resten einer nie fertiggestellten Autobahn, die aber die Hälfte der Häuser des angrenzenden Viertels gekostet hat, die Sonne untergehen sehen können. Bisher war der Erfolg der Schau aus Repertoirstücken, begleitendem soziokulturellen Programm, Bar und Kinderbelustigung immer extrem wetterabhängig, im letzten Jahr ging die Crew regelrecht baden, es kam zu zeitweisen Stromausfällen und die Techniker wünschten sich zurück ins feste Haus nach Mitte. Das war so richtig Theater in der Tradition der Neuberin, mit klammen Kostümen und Zuschauern mit Regenschirmen.

In diesem Jahr nun hatte die Leitung des Hauses eine Art Zirkuszelt spendiert, und während der Regen aufs Dach prasselte, konnte man das warme Bier gemütlich auf Plastikstühlen sitzend konsumieren. Von weitem sah das Ganze aus wie eine Wagenburg, die den Unbilden Neuköllns trotzt, besser gesagt: Neubritz - die Einheimischen wissen da sehr genau zu unterscheiden. Südöstlich der Ringbahn ist Neukölln nur noch ein Oberbegriff. So wie man den Prenzlauer Bergern nicht mit Pankow kommen darf. Neubritzer sind eine Mischung aus Familien, die schon immer hier wohnen, Exbesetzern und arabischen Großfamilien. Zwei Jahre lang hatten letztere die jüngsten Familienmitglieder zum Gucken und Mitmachen geschickt, zwei von ihnen schafften es bis in die Inszenierungen von René Pollesch im Haus in Mitte, und angeregt vom Erfolg ihrer Geschwister trauten sich nun sogar ihre abgeklärten großen Brüder in die Neuköllner Dependance des Theaters und auf die Bühne. Denn während die Erwachsenen um die Ecke in der Kneipe "Zenit" nach der Melodie von Rudi Carells Am laufenden Band suchten, war beim Theater Karaokesingen angesagt: Gob Squad alias Porn Shatton und Peter Bowling luden, assistiert von einem Cowgirl, ein zur Karaoke-Battle-Show Neukölln sucht den Superstar, die ein wenig für Glamour in Neubritz sorgen sollte. Im Laufe des Vorabendprogramms hatte man unter den Zuschauern nach Kandidaten gesucht, die sich ein Lied aus dem Repertoire wählen oder mit Selbstgemachtem auftreten konnten. Die Kandidaten setzten sich aus den männlichen Mitgliedern der arabischen Familien, die sich als Künstler Psycho, Snake, Aladin oder Capt´n Chuck nannten und Thirtysomethings, vorzugsweise aus den Innenstadtbezirken, zusammen. Frauen waren erheblich in der Unterzahl.

In einem kurzen Videotrailer wurden die Kandidaten danach gefragt, was sie mit dem vielen Geld machen werden, das sie gleich gewinnen könnten. "Ich habe gehört, du willst mit dem Geld Neukölln kaufen", fragte Gob Squad einen der Kandidaten. "Ich trage Neukölln im Herzen", war die Antwort. Kandidat Sisquo wurde gefragt: "Was ist deine Botschaft." Nach längerem Überlegen kam er zu dem Schluss, dass er noch keine habe. Er zeichnete sich auf der Bühne vor allem dadurch aus, dass er vor Verlegenheit ständig auf die Bühne spuckte, zum Singen aber wegen zwischenzeitlicher heftiger Lachanfälle gar nicht mehr kam und am Ende seine jüngeren Geschwister dafür verantwortlich machte, die zu hohe Erwartungen an ihn gestellt hatten. Kandidat Amigo war da, obwohl drei Köpfe kleiner, weitaus selbstbewusster: "Ich sing ein Lied, das ich selber kreatiert habe". In der Mitte des Publikums saß eine junge Frau, nippte an einer Flasche Bier und konnte sich so gar nicht an Tanz und Gesang des kleinen Machos erwärmen, der die linke Hand öfter im Schritt als in der Luft hatte. In einer plötzlichen Entschlossenheit spritzte sie einen Teil des Inhaltes ihrer Flasche aus der dritten Reihe heraus in Richtung Bühne, traf aber nur die erste Zuschauerreihe, wo Kandidat Sisquo alles abbekam und sich sogleich auf den Rastabezopften hinter sich stürzte, in der Annahme, der hätte die Meinungsäußerung kundgetan. Das Mädchen indessen versteckte die Augen hinter ihrem langen Pony und war wieder ganz ruhig.

Gegen die arabische Übermacht hatten das Volksbühnenterzett und die beiden skandinavischen Jungs Björn und Bonk, die aussahen wie ABBA ohne Mädels und ohne Stimmen, keine Chance. "Aus welchem Land sind Sie", fragte Porn Shatton. "Sonnenallee", antworteten die Jungs im Chor.

Als am Ende der Erfolg mit Beifall gemessen wurde, war Amigo mit Abstand der Beste, sieht man mal von der karaokeerfahrenen Amerikanerin Betsy Davis ab, die mit der perfekten Imitation von Britney Spears selbst von den beinharten Fans arabischer Superstars Respekt erfuhr und auf der Erfolgsskala, die von Zlatko bis Gott reichte, gleichauf mit Amigo und kurz vor Gott endete. Um die Trophäe brauchten sie sich nicht zu streiten, die hatte Capt´n Chuck längst entführt.

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