Neumannsche Stadt

Berliner Abende Am Horizont blinkt der Alexanderplatz. Von meinem Standpunkt aus könnte es die Prenzlauer Allee sein, auf der ich stehe. Der Fernsehturm fehlt. Das ...

Am Horizont blinkt der Alexanderplatz. Von meinem Standpunkt aus könnte es die Prenzlauer Allee sein, auf der ich stehe. Der Fernsehturm fehlt. Das irritiert, genau wie der Überseedampfer mit einem Fetzchen Meer hinter dem Friseursalon. So hätte schon Tucholsky Berlin am liebsten gesehen, vorne Stadt und hinten Meer. Dort, wo ich stehe, ist die Wirklichkeit auf hohem Niveau imitiert. "Die Leute kommen ganz normal die Treppe hoch, ihre Karte in der Hand und denken, na ja, suche ich mal meinen Platz und dann ... sind sie irritiert. Finde ich gut", sagt Bert Neumann, der Bühnenbildner, der seit Jahren Häuser baut. Häuser in der Volksbühne, Häuser im Prater und auf dem Gelände des ehemaligen Ferienlagers der Volksbühne. Manche sahen aus wie Bungalows Marke Rheinsberg. Als müsse sich der Bühnenbildner von den Zumutungen seiner Kindheit erholen, indem er sie beständig wiederholt. Aber eine der Errungenschaften der Wende war, dass man erkennen musste, dass es in allen Vorstädten der Welt aussieht wie in Marzahn - und auf den Rückseiten der Boulevards wie in Ostberlin 1983. Der gefakte Supermarkt in der Volksbühne ist in Konkurs gegangen. Die Werbung hängt noch von der Decke, im Zeitungsständer klemmen Zeitungen von vor drei Wochen, der Fußboden ist mit Matratzen ausgelegt, die aussehen, als seien sie wirklich benutzt worden. Nebenan kann man sich die Haare waschen lassen. Oder schneiden.

So wie unter den Pflastersteinen der Strand liegt, befinden sich unter dem Sperrholzboden der Neumannschen Stadt, auch Neustadt genannt, die Zuschauersitze. Den Zuschauern hat der Bühnenbildner ein Containerdorf gebaut, das sich auf der Drehbühne befindet und manchmal zum Karussell mutiert. Man könnte mit drei Handgriffen auch ein Flüchtlingsheim oder eine Bauarbeiterunterkunft daraus machen. Vom dritten Stock aus kann man in die Fenster des gegenüberliegenden Hauses sehen. In der zweiten Etage brennt Licht, am Tisch mit dem weißen Tuch sitzt niemand.

"Da unten steht ein echter Architekt", sagt Bert Neumann und zeigt auf die Straße zwischen den Häusern, "echte Architekten sehe ich hier nicht so gerne." Die Assistentin des echten Architekten trägt einen Plan mit sich herum, auf dem der Zuschauerraum zu sehen ist, fein säuberlich getrennt von der Bühne. Ein Regime, das Bert Neumann aufgehoben hat, mit dem Ergebnis, dass plötzlich im Zuschauerraum die Bühnenvorschriften und auf der Bühne die des Zuschauerraums gelten, die anderen aber nicht außer Kraft gesetzt sind. Die Illusion, man befände sich außerhalb des Stadttheaters, gilt nur für die Zuschauer. Denn das Stadttheater schlug zurück, bevor überhaupt die Pläne Neustadts fertig waren. Die Stadt ist der Bürokratie abgetrotzt. Durch den löchrigen Aluminiumboden des Zuschauerhauses kann man die Stühle der unteren Etage sehen, demnächst auch die Hände im Schoß des Kultursenators oder die übereinandergeschlagenen Beine der Fernsehmoderatorin. Die Löcher im Boden sind eine Vorschrift der Feuerwehr. Eigentlich hätte es über den Zuschauern eine Beregnungsanlage geben müssen. Mit echtem Regen wäre die Neustadt der Wirklichkeit noch etwas näher gekommen. Jetzt tut es auch ein Feuerwehrschlauch, neben dem länger als drei Stunden ein Feuerwehrmann stehen wird. Solange dauert es, bis Frank Castorf sich den Dostojewskischen Idioten zurechtgespielt hat.

Bert Neumann interessieren die Ränder, die Brüche und Zufälle der Stadt. Imitation of Life, heißt ein Buch mit seinen Arbeiten, aber er sagt, er möchte die Wirklichkeit auf der Bühne widerspiegeln und Widerspiegelung heißt, dass es eine vierte Wand gibt. Bei Bert Neumann muss man durchs Fenster schauen, und weil die interessantesten Details immer hinter der Wand zwischen zwei Fenstern stattfinden, sind die Räume alle mit Kameras bestückt. Hier können die Zuschauer Voyeure sein im Dreieck der Häuser. Dem der Nastassja Filippowna, wo sie einen schwiemeligen Salon betreibt, dem Dunklen des ebenso zwielichtigen Rogoschin, das Neumann irgendwo aus einer ostdeutschen Kleinstadt kopiert hat und dem Gebäude, in das Fürst Myschkin sich einquartieren wird. Er muss mit DDR-Tapete und einem Doppelstockbett aus den Beständen aufgelöster Kinderheime vorlieb nehmen, aber er ist ja auch der Idiot.

Wie wird wohl die Stadt aussehen, nachdem Fürst Myschkin als Katalysator die Katastrophe beschleunigt hat? Wird das Karussell, auf dem die Zuschauer sitzen, sie in die echte Wirklichkeit zurückkatapultieren?

Der Architekt verlässt die Stadt, neue Besucher kommen. Sie sehen aus wie Touristen, sind aber Künstler, die ein Video drehen wollen. "It´s great", schreit die Japanerin und setzt sich an den Tisch im Salon von Nastassja Filippowna. Über ihren Kopf hat Bert Neumann eine Klappe in die Decke gebaut. Durch die werden die Nachbarn ihren Müll werfen. Aber sie sind noch gar nicht eingezogen.

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