„Joseph Roth. Eine Biographie“ von Wilhelm von Sternburg: Ohne feste Adresse
Prophet Joseph Roth trug wie kein anderer die Verwerfungen Europas in sich. Wilhelm von Sternburg veröffentlicht eine Biografie über den rastlosen Schriftsteller und Journalisten
In seinem Buch Männer und Mächte der Gegenwart von 1930 schreibt Valeriu Marcu, der Biograf und zeitweilige Weggefährte Joseph Roths: „Die Biographie ist zärtlich.“ Und weiter: „Die Biographie ist nicht deshalb zärtlich, weil der Verfasser seinen Helden liebt, sondern weil sie ein Leben enthält – und jede Existenz ist ein Rührstück.“
Die Biografie des Schriftstellers und Journalisten Joseph Roth enthält weit mehr als ein Leben. Denn obwohl Roth nur 44 Jahre alt wurde, trug er wie kein anderer die Verwerfungen Europas in sich: aufgrund seiner Herkunft, seines Lebens- und Berufsweges, seines Exils.
Roth war galizischer Jude und Katholik, leichtlebig und schwermütig, Sozialist und Monarchist, Journalist und Schrifts
t, Journalist und Schriftsteller, einsam und gesellig, den Frauen zugetan und seiner kranken Frau immer verbunden, ein schwerer Trinker und zugleich klar im Kopf. Ein Leben, katastrophal und erfolgreich zugleich. Roth selbst sei ein „Mythomane“ gewesen, der die Welt und seine Haltung dazu ständig neu erfand, so einer seiner Biografen, der 1990 gestorbene Literaturwissenschaftler David Bronsen, lange Professor für deutsche Literatur an der Washington-Universität im amerikanischen St. Louis.Ungebrochene BedeutungJoseph Roth war, lange bevor der Nationalsozialismus ihn ins Exil zwang, in Europa unterwegs. Er hat es in Gänze durchmessen: von der Wolga bis ans Mittelmeer, von Nordeuropa bis Albanien. Dazwischen Wien, Berlin, Paris. Und er konnte über all das überall schreiben. Auch noch am Ende seines Lebens, als er, ein schwerer Trinker, im Pariser Café Le Tournon in der Nähe des Jardin du Luxembourg Hof hielt und die leergetrunkenen Gläser übereinanderstapelte, bis sie umfielen und er in sein Hotelzimmer über dem Café stolperte. „Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren.“ Allein in den 6 Jahren seines Exils hat er 12 Romane und Erzählungen und 160 Artikel verfasst.Keine leichte Aufgabe für einen Biografen, wollte er Roths Schauplätze seines Lebens aus eigener Anschauung sehen, jeden noch so kleinen Artikel finden und lesen und jeden Roman studieren. 16 Romane und 19 Novellen erschienen in nur 20 Jahren, von den unzähligen Artikeln, die Roth verfasst hat, sind wahrscheinlich noch nicht einmal alle entdeckt.Vielleicht ist dieses rastlose Leben eines hyperaktiven und bis zum letzten Tag produktiven Menschen der Grund, dass, gemessen an der ungebrochenen Bedeutung des Schriftstellers und Journalisten Roth für die deutsche Literatur und Publizistik, doch erstaunlich wenige Biografien über ihn erschienen sind. Die bekannteste war bis dato die von David Bronsen aus dem Jahr 1974, der Pionierarbeit leistete. Seine Biografie fußte neben anderen Quellen vor allem auf Interviews mit mehr als 160 Personen und ihren zum Teil sehr unterschiedlichen und mitunter auch widersprüchlichen Erinnerungen an Roth.Wilhelm von Sternburg geht in seiner neuen Biografie einen anderen Weg. Er beschreibt Leben und Werk Roths in Bezug zu seiner Zeit und jenseits der Legenden. Sternburg ist kein Literaturwissenschaftler, sondern studierter Volkswirtschaftler und Historiker, der über eine Tätigkeit als Journalist zu seinem jetzigen Beruf als Biograf kam.Der 1939 geborene Autor, lange Chefredakteur des Hessischen Rundfunks, hat über Erich Maria Remarque geschrieben, über Lion Feuchtwanger, Carl von Ossietzky, Gustav Stresemann und zuletzt über Konrad Adenauer. Aber keiner dieser Schriftsteller und Staatsmänner hat ihn wohl derart herausgefordert.„Biographies romancées“, so hat es Vladimir Nabokov einmal definiert, sind das Bedürfnis „eines gierigen, aber beschränkten Geistes, sich einen saftigen großen Mann herzunehmen, ein armes wehrloses Genie, und sich seiner sehr fernen Vergangenheit mit der Unverfrorenheit des Schlaubergers zu nähern“.Dieses Vorgehen ist von Sternburgs Sache nicht. An keiner Stelle gibt es einen betrunkenen Roth, der sinnend am Geländer einer Seine-, Spree- oder Wolgabrücke steht und über sein kompliziertes Leben nachdenkt. Nichts wird überhöht oder besonders ausgeschmückt, es gibt keine Schuldzuweisungen, nicht einmal Unverständnis über einen Menschen, der gerade in seiner Weltanschauung manch jähe Wendungen machte.Von Sternburg schaut sich seinen Protagonisten von oben an, wie er durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geht, ohne je länger eine feste Adresse zu haben. Jeder von Roths Lebensschritten ist mehrfach abgesichert durch Anmerkungen, die zu den ausgewiesenen Quellen führen.Ein gut lesbares WerkMan kann sich allerdings, wenn man kein wissenschaftliches Interesse hat, das Nachschlagen der Endnoten getrost sparen und stattdessen eintauchen in diese außergewöhnliche Lebensgeschichte, die der Ausschmückung nicht bedarf. Roths Leben spricht für sich, wie auch seine Beerdigung viel über ihn erzählt. „Am Grab auf dem Cimetière de Thiais versammeln sich katholische Christen, jüdische Emigranten, deutsche Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale und österreichische Legitimisten. Jeder ihrer Sprecher reklamiert den toten Dichter für die eigene Religion, die eigene Ideologie. Es kommt zu lautstarkem Streit und Handgreiflichkeiten. Eine Szene, als wäre sie von ihm erdichtet.“Von Sternburg ist kein Mann der extravaganten Sprache. Ab und an gibt es eine erste Person Plural, die zwischen dem Biografen und dem Protagonisten einen zeitlichen und persönlichen Abstand schafft. Die spannungsreiche Dramaturgie bezieht das Buch allein aus dem widersprüchlichen Leben des Protagonisten. Das macht das 500-Seiten-Buch zu einer gut lesbaren Biografie, die bei den vielen Quellen zu Teilaspekten des Werks auch eine ungeheure Fleißarbeit gewesen sein muss.Da klingt es fast bescheiden, wenn von Sternburg sein Buch im Untertitel Eine Biographie, nicht die Biografie nennt, wie es Biografen und ihre Verlage heutzutage gern tun. Nach Lektüre seines Buches sollte man aber gleich weiterlesen – die Werke Joseph Roths, neben seinen Klassikern Radetzkymarsch, Hotel Savoy oder Hiob auch die Feuilletons und Reportagen aus der Berliner Zeit.
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