Am Anfang ist eine Tonfolge. Zwölf Variationen für Klavier C-Dur, eine schlichte französische Melodie von Mozart: "Ah, vous dirai-je, maman", die bei uns in der Kinderlied-Variation unter dem Titel Morgen kommt der Weihnachtsmann bekannt ist. "Diese einfachen Töne, dieses umfassende ABC soll die Reiselektüre sein und das Reiselied. Wie beiläufig laufen die Töne fort", so heißt es im Prolog des Buches. Die Reise geht im Frühjahr 2005 vom Rheiderland in Norddeutschland nach Israel, dank eines vierwöchigen Stipendiums. Am Anfang sind Rede und Gegenrede. Es ist noch unklar, wer spricht. "Das ist eine Krisenregion! Was hast du da verloren? Das ist ein ganz normales Land. Kein Grund zur Angst. ... Fahrt auf keinem Fall mit dem Bus. Und immer viel Wasser trinken! Schreibst du mir mal. Schreib keine Post, schreib auf." Im Gewand der fiktiven Person Marie, die eine Woche begleitet wird von Rupert, dem Bruno-Schulz-Spezialisten, nimmt Sabine Peters diesen Rat auf und führt den Leser auf eine literarische Reise, auf der auch die wechselnden Gesprächspartner in kaum verhüllende Capes gesteckt werden.
So wird aus dem Publizisten Moshe Zuckermann Moshe Bibermann und aus Michael Warschawski Michael Levy. Aufmerksame Leser des Freitag werden fast wortwörtlich eine Rezension Sabine Peters´, die Anfang Januar 2005 im hiesigen Blatt über Michael Warschawskis Buch Auf der Grenze erschien, in Singsand wiederfinden. Mit ihnen, die nicht nur als fiktive Figuren Grenzgänger in vieler Hinsicht sind, führt Marie lange Gespräche. Es gelingt ihr, auch auf die andere Seite der Mauer zu kommen, um die Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erleben, bei Majed Nassar (im Buch Majed Kashua), dem palästinensischen Arzt und Schriftsteller, der unbeweglich durch die Ausgangssperre ist. Sie begegnet Zvi und Mascha Vogel, dem alten Paar, das den Holocaust überlebt hat und in einer anderen Zeit lebt. Immer wieder kehrt Zvi im Kopf die 2000 Kilometer nach Drohobyz zurück. Mascha möchte noch einmal in ihrem Leben nach Paris fliegen. Noch jede Sekunde der Gegenwart ist vom Holocaust geprägt und dem Wunsch, nie wieder Opfer zu sein.
Im Center for German Studies in Beer Sheva, wo Marie Vorträge hält und sich von der österreichischen Dozentin Claudia Rosenberger durch die Wüste führen lässt, lernt sie die Studentin Amal kennen, für die es als israelische Palästinenserin täglich unsichtbare Grenzen gibt. Marie schließt Bekanntschaft mit Beduinen, die ihr aus ihrer Sprache das Wort Singsand schenken, mit dem Taxifahrer Izak, für den jeder arabische Junge ein potenzieller Selbstmordattentäter ist, russischen Securitymännern und häkelnden Soldatinnen, die sich nach einem normalen Leben sehnen. Ihre Reise führt über Jerusalem, Bethlehem, die Westbank, Tel Aviv bis in die Wüste bei Beer Sheva.
Marie kommt in ein Land, dem durch die zweite Intifada und den Bau der Sperrmauer die Touristen fehlen. Mehrmals versucht sie, die Grenze zwischen Israel und Palästina zu überwinden, und bleibt doch den ganzen Aufenthalt über in einem Niemandsland gefangen. Sie möchte für keine Seite Partei nehmen oder für beide und kommt immer wieder in der deutschen Vergangenheit an. Das ist mitunter sehr empathisch. "Die Deutschen reden von sich selbst, wann immer es um die Juden und Israel geht. Das ist die Erfahrung vieler Juden auch in Israel. Die Deutschen wissen alles besser, auch wenn sie das Land nicht kennen. Deutscher Schuldkomplex. Christliche Bußübungen. Versöhnungstamtam ... Sie sollen einfach den Mund halten, die Deutschen, sagt Marie. Hält also nicht den Mund. Ist nicht was besseres. Viereckige Kreise gibt es nicht. Ein Starrkrampf, jede Regung ein Starrkrampf. Sollen Ida und Zvi erzählen aus ihrem Leben, damit Marie was zum Schreiben hat? Das fehlte noch: Schreiben-im-Namen-von." Und schreibt dann doch über Zvi und Ida, die Überlebenden. In solchen Lektüremomenten fragt man sich, warum Sabine Peters dieses Buch schreiben musste. Dann ist da nicht mehr als eine von Zweifeln geplagte (und durch Redundanzen geprägte) Selbstvergewisserung über ihre eigene Haltung zu den Problemen des Nahen Ostens. Hätte dazu nicht eine Reportage gereicht? Eine Seite weiter kann die Sprache den Einwand wieder vergessen machen. Ganz auslöschen lässt er sich freilich nicht.
Die skizzierten Alltagssituationen haben durch das Fehlen der Verben oder die Aneinanderreihung von Hauptsätzen etwas manchmal fast atemlos Poetisches. "Und tausendundeine Nacht und tausendzwei Tage und tausenddrei Leute, wirbelndes Durcheinander, Vielfalt und Fülle. Das stille Brodeln der Wasserpfeifen, alle Farben bei Früchten und Teppichen, der klingende silberne Schmuck, die Echos der Muezzins, der Duft der Gewürzhügelchen auf den Ladentischen, das Pinkergeräusch bei Schustern, die Blut- und Wasserlachen vor Fleisch- und Fischläden."
Die Autorin zitiert mehrmals aus dem Handbuch des Israel-Reisenden, das unter Mitarbeit von Prof. Dr. Heinz Krause mittlerweile seine 28. Auflage erlebte, ein Machwerk der herablassenden Betulichkeit, in dem es über das Land heißt: "Auch hier lebt bereits das 21. Jahrhundert, mit Computern und Videospielen, aber ebenso mit der Erinnerung an die schweren Stürme im Vergangenen."
Sabine Peters gelingt es immer wieder, das Nebeneinander von Tätern und Opfern und das fast zeitgleiche Vertauschen der Rollen sehr genau zu beschreiben. "In der ganzen Bewegung, in all dem Fließen der Leute ist auf der anderen Seite der Gasse plötzlich ein Ruck, rasch, ein Soldat tritt ein Kind, schnell, scharf. Es fällt um. Und noch mal. Der Tritt gegen den liegenden Jungen, zack. Niemand rührt sich. Kein Schrei. Absolute Leere, die alles umfaßt, eine Gewalt, in sich selbst gefangen, wortlos, dann geht die Zeit wieder weiter." Fünf Minuten später und drei Ecken weiter wird Marie selbst von einem palästinensischen Jungen angegriffen. "Sie rempeln die Fremden an. Einer sagt zur Frau: Fuck you, leise, sehr scharf. Die Fremden gehen schneller, lassen die Kinder hinter sich. Etwas saust zack durch die Luft. Ein Stück zusammengedrehter Draht trifft Maries Fußknöchel. Es ist nicht der Fuß verletzt."
Zwar gab es schon in Sabine Peters´ 2000 erschienenem Debütroman eine Marie (verheiratete mit Rupert), aber trotzdem mag man sich fragen, warum heißt eine ausgerechnet Marie und nicht Simone oder Silke? Nicht erst seit Anna Seghers geistern die Maries durch die deutsche Literatur. Bei der Seghers waren die weiblichen Figuren gleichen Namens immer unbedarfte Mädchen oder Frauen, die am Ende zu einer Erkenntnis kamen und gestärkt aus der Geschichte gingen. Marie klingt immer nach Märchen. Eine, die, wenn nicht doch den Broten und den Äpfeln und Frau Holle helfen, so doch wenigstens alle verstehen will. Und selbst als Pechmarie nicht wirklich Schaden anrichtet.
Zwölf Variationen hat Sabine Peters ihrer Tonfolge nicht entlockt. Mehr als drei sind es gewiss.
Sabine Peters: Singsand. Zwischen Beer Sheva und Bethlehem. Wallstein, Göttingen 2006, 196 S., 16 EUR
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