Allein, um die Tapete an den Wänden des Kaffee Burger länger als zehn Minuten ertragen zu können, muss man eigentlich schon betrunken dort ankommen. Psychologen raten dringend ab, Wände in Rot zu tapezieren, in diesem Etablissement aber kommt zur roten Velourtapete in dem einen Raum noch kackbraune in dem anderen hinzu, eingefasst in eine Decke aus Holzimitat. Sollte man noch nicht besoffen sein, dann ist dringend geraten, drei Sturzbier oder -wein zu trinken, um nicht mit dem ersten besten in Streit zu geraten. Zu Boden geht allerdings keiner, sollte es doch zu einer Prügelei kommen. Es ist so voll, dass man höchstens bis an den nächststehenden Nachbarn fällt, der dann sein Bier verschüttet. Das könnte schnell eine Massenschlägerei werden, aber eigenartigerweise sind alle friedlich. Vielleicht sind sie auch aus dem Westen oder jünger als dreißig und haben die Phase der roten Velourtapete nicht mitgemacht. Die finden so was "kultig". Es gibt aber zwei Dinge, die mich immer wieder zur roten Tapete ziehen. Das eine ist die montägliche Suppe des Effektivkollektives Silberstein und das zweite die monatliche "Russendisko".
Russendiskos waren im allgemeinen Sprachgebrauch der achtziger Jahre die Diskotheken, die den ganzen Abend DDR-Titel spielten. Sowjetische Rockmusik war nie darunter. In der Stadt, wo ich meine Pubertät verbrachte, verband sich damit noch die Geschichte eines Überfalls. Eines Abends war in eine Diskothek am Stadtrand ein sowjetischer Soldat geflüchtet und hatte sich mit einer Handgranate in der Garderobe verschanzt. Nebenan lagen die Jugendlichen auf dem Boden, bis die Militärstreife kam. Hinterher gab es viele Gerüchte. Die einen sagten, seine Verfolger hätten ihn noch in der Garderobe erschossen, die anderen meinten, er sei erst auf einem Feld hinter Heyrothsberge gestellt worden. Die Handgranate kam jedenfalls nicht zum Einsatz.
Wahrscheinlich wusste der Soldat noch nicht einmal, dass er in Magdeburg war, und böse Zungen behaupteten, hätte er es gewusst, wäre er bestimmt nicht abgehauen.
In der Russendisko des Kaffee Burger haben sich Waffenträger bisher nicht zu erkennen gegeben. Manche Jungs spielen ein bisschen mit dem Mafiaruf ihrer Landsleute, indem sie auf der Tanzfläche Sonnenbrillen tragen, obwohl der Raum mit rustikaler Wohnzimmerbeleuchtung aus der Zeit ausgestattet ist, wo Leuchtendesigner der DDR-Bevölkerung noch Gemütlichkeit bis zur Rente vortäuschen wollten. Die Stehlampe in der Ecke hatten meine Eltern auch mal, nachdem die Bauhausleuchte kaputt gegangen und Ersatz nicht zu beschaffen war. Sie legt ein mildes Licht auf die Szene, und man fühlt sich in die Zeit versetzt, wenn Mama und Papa das Haus verlassen hatten und man Sofa und Couchtisch beiseiteschob, um eine Fete zu feiern.
Die DJs Gurzhy und Kaminer müssen ihre Platten mitgenommen haben, als sie Anfang der neunziger Jahre aus der Sowjetunion kamen, obwohl sie eher so aussehen, als hätten sie als Jugendliche in Auflehnung gegen ihre Väter Modern Talking gehört. Verbindend ist an den Titeln, die sie spielen, nur, dass sie in Russisch gesungen sind, ansonsten ist alles dabei zwischen Volkslied und Diskoschnulze. Kein einziges englisches Wort ist in dieser Nacht aus den Lautsprechern zu hören. Nichts mit 60:40, wie zu DDR-Zeiten, es geht 100 Prozent Russisch zu. Die Texte der Diskotitel scheinen noch nicht einmal aus dem Englischen übersetzt zu sein, es geht viel um uliza, sowjetskij sojus und andere für die Diskokultur nicht gerade wesentliche Themen. Die Melodien sind hemmungslos abgekupfert, nur scheint es beim Tanzen manchmal, dass der Takt ein anderer ist. Das tut aber der Stimmung keinen Abbruch, getanzt wird nach allem, was aufgelegt wird, und je weiter die Zeit fortschreitet, desto voller wird es auf der Tanzfläche, und dann ist es sowieso egal, es gibt nur noch eine große schwankende Masse, umrahmt von einer Menge Gaffern in fortgeschrittenem Alter.
Alle Komponenten meiner ersten Diskothekenbesuche sind versammelt. Es gibt die Mädchen in den weißen Blusen, die sich schön gemacht haben, wozu auch silberner Lidschatten und mit Lockenstab in Form gebrachte Frisuren gehören. Die Jungen betrinken sich hemmungslos. Zu fortgeschrittener Stunde knutscht sich ein Pärchen am Rand der Tanzfläche zu Boden. Neben ihnen steht ein riesiger Jamaikaner, der nicht recht weiß, wie man sich zu diesen schrägen Rhythmen bewegen soll. Er schlenkert mit seinen Armen immer nach rechts und links und hält dabei Ausschau nach einer Frau. Überhaupt ist das Ganze ein bisschen wie die praktische Umsetzung der Theorien Dietrich Mühlbergs in seinen Vorlesungen über die Sexualität in unterschiedlichen Kulturen und die Missverständnisse, die sich aus den differierenden Abständen zwischen erstem Kuss und erstem Geschlechtsverkehr ergeben. Gegen vier kommt man doch arg in Bedrängnis, wenn man mit Tanzen nicht gleich Sex auf offener Szene verbindet. Da hilft dann nur, lesbisch zu sein.
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