Sommertheater

Berliner Abende Für die Werbefirmen ist die Runigiusstraße aufgegebenes Gebiet. Zuletzt wurde im Januar geklebt. Ein Fetzen Anja Kling wirbt noch für die Affäre ...

Für die Werbefirmen ist die Runigiusstraße aufgegebenes Gebiet. Zuletzt wurde im Januar geklebt. Ein Fetzen Anja Kling wirbt noch für die Affäre Semmeling, die am 9. Januar lief. Unter dem anderen Semmelingplakat hat sich inzwischen das Gesicht eines Jungen herausgeschält, der schlechte Zähne hat und wahrscheinlich keine Drogen nehmen will. Am S-Bahnhof Neukölln, für eine Woche jeden Morgen und Abend mein Tor nach Neubritz, ist die Werbung mit diversen Sperrholzlatten vernagelt. Das sieht aus wie Kunst. Die Frage ist nur, ob legale oder illegale.
Bei Wal Mart gleich neben dem S-Bahnhof Neukölln ist die Reklame gleich ganz auf italienisch. Der Lottostand wirbt in türkischer Sprache, auch die "Heiße Theke" ist zweisprachig. Wal Mart ist ein Erlebnis auf ehemaligem Industriegelände, mit kostenlosen Parkplätzen und einer Halle, deren Ende man am Eingang nicht sieht. Überall stehen zur Werbung prall gefüllte Einkaufswagen mit verbilligten Lebensmitteln herum, die in Zellophan eingewickelt sind, damit sie niemand in den eigenen Einkaufswagen legt. Wahrscheinlich entspricht der Wert eines Wagens dem Sozialhilfesatz einer vierköpfigen Familie. Es gibt Freizeitkleidung zu kaufen, die an kubanische Uniformjacken erinnert. Auf die linke Brusttasche sind rote Sterne gedruckt.
Ich würde gern wissen, ob die Angestellten immer noch Fahnenappelle machen müssen. Als die Märkte vor ein paar Jahren von Amerika nach Deutschland expandierten, wurde besonders auf die Corporate Identity der Angestellten mit ihrer Firma hingewiesen, die sich in Zusammenkünften der Belegschaft widerspiegelte. Besonders eifrig sahen im Fernsehen aber nur die jungen Männer aus, die in der Konzernetage eine Karriere zu machen gedachten.
Am Ende der Halle gibt es Fernseher für 100 Euro. Der Ton ist abgestellt. "Ist denn hier niemand?", fragt eine Frau, aber Angestellte scheint es nicht zu geben, dafür Waren über Waren. Nur an der Kasse sitzen überaus freundliche Frauen, die für jeden Artikel eine Nummer im Kopf haben.
Draußen kommt mir ein altes türkisches Paar entgegen. Der Mann schiebt eine Gehhilfe mit integriertem Einkaufskorb vor sich her. In anderen Bezirken sieht man nie ältere türkische Paare und auch junge Türken, die Kinderwagen schieben, sind eher eine Seltenheit.
Ich bin für eine Woche Flaneurin bei der Volksbühne und erkunde Neubritz. Es gibt ein Überangebot an Kfz-Werkstätten, unter denen die Werkstatt von Jürgen Köppen zumindest den auffälligsten Namen hat und unter www.naegel-mit-koeppen.de auch im Internet seine Dienste anbietet.
Man könnte die Gegend von der Außenwelt abschneiden und sie würde gut und gern ein paar Wochen überleben. Es gibt etliche Kneipen und Imbisse, Restaurants, acht bis zehn große Lebensmittelmärkte der mittleren bis unteren Preisklasse, Videotheken, ein Sexkino, eine "Muscelfactory", einen Schulgarten, Internetcafés, Tankstellen und sogar einen Betrieb für Fernsteuergeräte.
An diesem Dienstag fielen gegen fünf die ersten Tropfen. Dialektik war, dass ich baden ging und die anderen nass wurden. Ich wollte wissen, welchen Stellenwert das Spaßbad BLUB in der Umgebung hat. Ich hätte mir die Frage schon am Eingang beantworten können. Eine anderthalb Stundenkarte kostet 8,20 Euro, für Kinder 6,10 Euro. In der Sauna zahlt man für vier Stunden 15,80 Euro. Jetzt im Sommer gibt es die Tageskarte zum Preis der Vier-Stundenkarte, weshalb sich die wenigen Gäste gemütlich eingerichtet haben auf ihren Liegestühlen. Man spielt Karten und hat Stullen mitgebracht. Auffällig ist das Überangebot an Solarium-überbräunten-Männern mit Schnauzer und Goldkette. Einer stolziert in seiner neongrünen Stringtangabadehose im Garten auf und ab, bis es anfängt, Strippen zu regnen und niemand mehr hinsieht.
Als es endlich aufhört und für Momente die Sonne durch die Wolken lugt, herrscht auf dem Gelände, wo die Volksbühne ihre Theaterwagen aufgestellt hat, Ferienlageratmosphäre. Es wird sogar Post ausgegeben. Nur mit dem Theaterabend ist es vorbei, denn der Regen hat die Tonanlage außer Betrieb gesetzt. Alle sind nass, bei mir sind es nur das Handtuch und der Badeanzug.
Gelangweilt davon, dass auf der Bühne nichts stattfand, bringen die stromernden Jungen am Abend eine Fassbrauseperformance in drei Phasen: 1. Phase: Man tut so, als ob man Durst hat und lässt sich eine Fassbrause schenken. 2. Phase: Man beschmaddert den Fußboden des "Billig"-Wagens bis in die letzte Ecke. 3. Man verlässt die Bühne, durchquert den Zuschauerraum und zerschlägt draußen auf der Straße die Flaschen. Theaterkritiker hätten sicherlich moniert, dass die Nähe zur Castorfschen Ästhetik zu eindeutig sei. Tatsache ist allerdings, dass in der Gegend fast niemand die Volksbühne kennt. Theater kann man sich schließlich auch selber machen.

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