Unter Dampf

BERLINER ABENDE Ein Freitagabend in Berlin. Auf dem Bahnhof Charlottenburg treten ein paar Männer auf der Stelle, als käme gleich die Weihnachtsbescherung und sie ...

Ein Freitagabend in Berlin. Auf dem Bahnhof Charlottenburg treten ein paar Männer auf der Stelle, als käme gleich die Weihnachtsbescherung und sie bekämen die Modelleisenbahn, die sie sich schon immer gewünscht haben. Als der Stationssprecher die Ankunft der Sonderfahrt ankündigt, laufen sie an die Spitze des Bahnsteigs und holen ihre Videokameras und Fotoapparate aus den Umhängetaschen. Dampflokfreunde sind eine eigene Untergruppe des homo sapiens. Wenn man heute Kinder fragt, was sie werden wollen, fehlt ein Beruf, der, als ich klein war, zu den am meisten genannten gehörte: der Lokomotivführer. Die da stehen, sind aus unterschiedlichsten Gründen nie Lokomotivführer geworden und beneiden die beiden, die voller Stolz aus dem Führerstand grüßen.

Die eingetragenen Vereine der Dampflokfreunde und des Traditionszugs Berlin haben zu einer abendlichen Stadtrundfahrt eingeladen. Der Zug heißt »Fröhlicher Senior«, die Wagen sind alte Donnerbüchsen, die ihrem Namen alle Ehre machen. Die Schaffner haben maßgeschneiderte Uniformen aus den zwanziger Jahren, und einer trägt seine alte Trapouniform auf. Es ist ein bisschen so, als sei man in den falschen Film geraten, und gleich würden die Sirenen heulen oder Hamsterfahrer den Zug entern, um im Umland Bettlaken gegen Kartoffeln zu tauschen. Aber hinter den Fenstern zieht die Stadt vorbei, und es ist ohne Zweifel die des Jahres 2000. Dass es überhaupt noch Dampflokomotiven gibt, ist der Mangelwirtschaft der DDR zu verdanken. Als die Ölkrise kam, wurden sie wieder aus den Lokschuppen geholt. Einige haben bis heute überlebt.

Zu DDR-Zeiten hat die Deutsche Reichsbahn für die Westberliner Dampflokfreunde, die nicht in den Osten fahren wollten oder durften, Sonderfahrten organisiert. Der Zug fuhr vom Bahnhof Zoo über Charlottenburg nach Ruhleben und von dort nach Wannsee und zurück. Heute hat er freie Fahrt, falls auf der Strecke noch irgendwo ein Wasserkran oder wenigstens ein Hydrant ist, damit die Lokomotive mit Wasser versorgt werden kann. Wir fahren über Wannsee, Michendorf, Rangsdorf nach Blankenfelde, wo wir auf die S-Bahnstrecke stoßen. Die Wartenden auf den S-Bahnsteigen schauen ungläubig, als eine Dampflokomotive statt der erwarteten S-Bahn an ihnen vorbeifährt. Als wir den Bahnhof Tempelhof erreichen, ist die Sonne schon untergegangen.

Ich darf im Führerstand der Dampflokomotive mitfahren. Es ist heiß dort oben, und die Armaturen vibrieren, als die Lok sich wieder in Bewegung setzt. Wir fahren über die Gleise der Baulogistik, und von hier oben sieht es aus, als gäbe es zwischen dem Unkraut gar keine Gleise mehr. Hier oben sitzen zwei wahre Enthusiasten - Gregor und Martin. Beide haben Lokomotivführer bei der Deutschen Reichsbahn gelernt. Damals gehörte selbstverständlich noch eine Ausbildung auf Dampflokomotiven dazu. Heutzutage nehmen zwei Rentner in Güstrow die theoretische Prüfung ab, und wenn sie eines Tages aufhören, wird der Beruf des Dampf lokomotivführers aussterben. Gregor ist im Hauptberuf Lokführer beim Nahverkehr, und Martin fährt Güterzüge für Cargo. Die Dampflokomotive ist ihr Hobby. Fast jedes Wochenende sind sie unentgeltlich unterwegs. Über den Kohlen hängt ein Schild mit der Biographie der Lokomotive. 1944 als Kriegslokomotive gebaut, könnte sie wahrscheinlich Geschichten erzählen aus einer Zeit, als sie Soldaten an die Front beförderte und wahrscheinlich auch Gefangene. 1946/47 musste die 52-8177-9 ihren persönlichen Beitrag zur Wiedergutmachung leisten. Sie fuhr als Kolonnenlokomotive zwei Jahre Reparationsgüter in die Sowjetunion, bis Brest und wieder zurück.

Als wir an Funkturm und ICC vorbeikommen, zieht Gregor nur so aus Spaß an der Pfeife. »Mann, pfeif nich so ville, wir sind im Westen«, schreit Martin. »Die beschwern sich nämlich gerne. Det sind se nich jewöhnt.« Dampflokomotive vor ICC ist eigentlich ein angesagtes Fotomotiv für Dampflokomotiv freunde, aber inzwischen ist es zu dunkel. Martin ist selbst ein lohnendes Motiv für die Fotoapparate. Mit seinen langen Haaren und dem alten Speckdeckel auf dem Kopf scheint er einer anderen Epoche entsprungen. Die heutige Fahrt ist Routine. »Det is doch nur so'n Pionierexpress mit Sekttrinkern drinne, keen Problem für uns, da muss man noch nichma viel Kohle auflegen.« Am Ende des Gleises ist der Bahnhof Spandau zu sehen, ein leuchtender Palast aus Glas. Gregor legt noch mal Kohle nach, obwohl das die Spandauer gar nicht mögen. Am liebsten würden sie die Dampflokomotive aus ihrem Bahnhof verbannen, weil der Rauch angeblich die Scheiben verschmutzt. Von hier aus setzen wir zurück nach Charlottenburg. In den Wagen sind die Senioren inzwischen fröhlich vom Freigetränk - Rotkäppchen Piccolo, halbtrocken. In Charlottenburg berühren alle noch einmal die Lokomotive.

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