Allein

Im Kino Maren Ades eindringliches Spielfilmdebüt "Der Wald vor lauter Bäumen"

Vorab sei eine kleine Warnung ausgesprochen: Wer gerade frisch und allein in eine neue Stadt gezogen ist, eine neue Arbeitsstelle angetreten und vielleicht gleichzeitig noch eine Beziehung beendet hat, dem sei geraten, sich einen stabilen Optimismus zuzulegen, bevor er sich diesen Film anschaut. Denn Der Wald vor lauter Bäumen, das überraschende Spielfilmdebüt von Maren Ade, führt uns das Scheitern eines Projekts vom neuen Leben mit einer nüchternen Schonungslosigkeit vor, die auf der Kinoleinwand ihresgleichen sucht und vielleicht sonst nur im amerikanischen Independent-Kino eines John Cassavetes zu finden ist.

Dabei ist Melanie Pröschle (Eva Löbau) durchaus frohen Mutes, als sie aus der schwäbischen Provinz nach Karlsruhe zieht um ihre erste Stelle als Lehrerin anzutreten. Die Wohnung wird in mädchenhaften Pastelltönen eingerichtet, die Lehrerschaft mit Buffet und "frischem Wind" begrüßt und dank etwas Voyeurismus sogar eine gleichaltrige Nachbarin (Daniela Holtz) kennen gelernt, die prompt am nächsten Tag zu Kaffee und Kuchen vorbeikommt. Dass aber in der ungeschickten und leicht aufdringlichen Gutmütigkeit der Protagonistin potentielle Enttäuschung vorgezeichnet ist, ahnt Melanie mit Sinn für Peinlichkeiten selbst, als sie den Nachbarn zur Begrüßung einen Selbstgebrannten vorbeibringt: "Das isch ja jetzt eigentli au falsch, das müesstet ihr ja jetzt eigentli mir schenke". Der Film dehnt in seinem Verlauf den Graben zwischen ihrem Wunsch nach Sichtbarkeit und Anerkennung in Berufs- wie Privatleben und der Gleichgültigkeit und Abschätzigkeit ihrer Umwelt zu einem Abgrund von fast unerträglichem Ausmaß.

Das Moment der Unsicherheit, das Melanie von Anfang an mit sich trägt, gibt sie einer Verletzlichkeit preis, die vor allem die Schüler mit Unerbittlichkeit auszunutzen wissen. Der Versuch, deren Kooperation durch das Einwilligen in ihre Exkursionswünsche zu erkaufen, lässt Melanie jegliche Autorität als Lehrperson verlieren und macht die Unterrichtsstunden zu einer immer größeren Tortur. Auch die Nachbarin Tina, die sich nicht aus Interesse, sondern aus höflicher Nettigkeit mit Melanie abgibt, beginnt, deren naive Selbstlosigkeit für ihre eigenen Interessen auszunutzen. Das zwanghafte Überspielen der Kluft zwischen Wunsch und Realität endet für Melanie in einem Teufelskreis von Lügen, Selbsterniedrigung und Scham, in dem sie selbst soziale Grenzen überschreitet.

Dass das Psychogramm dieser sich selbst verlierenden Frau in einer Welt, die nicht auf sie gewartet hat, so eindringlich und verstörend daherkommt, liegt vor allem an der (selbst)entblößend gezeigten Unattraktivität der Hauptfigur und ihrer gekonnten schauspielerischen Umsetzung durch Eva Löbau. Melanie ist ein Landei, trägt Röhrenjeans und Birkenstock und ist weder in Aussehen, Stil noch Rhetorik mit dem gesegnet, was gemeinhin als Charme betitelt wird. Wenn wir ehrlich sind, müssten wir zugeben: Wäre sie unsere Nachbarin, würden wir auch nicht mit ihr ausgehen wollen und als Lehrerin könnten wir sie ebenfalls nicht ernst nehmen. Da der Film jedoch ausschließlich aus ihrer Perspektive erzählt wird, entwickelt er in seinem präzisen, schlichten Videorealismus die Intensität einer subjektiven Selbstwahrnehmung. Es ist ja das eigene innere Gefühl des Unerwünschtseins, das erst die Unsicherheit generiert, die dann als Unattraktivität erlebt wird. In den Strategien der Flucht nach hinten - also dem Verkriechen mit Mittagslunch in den einsamen Abstellraum der Schule - oder der Flucht nach vorn - dem aufdringlichen Nachfüllen der Champagnergläser der Gäste auf der Geburtstagsparty, auf der sie niemanden kennt - ertappen wir uns selbst. Melanie kommt uns zu nah, wie sie auch ihren Mitmenschen im Film zu nah kommt - sowohl als Gegenüber wie auch als Spiegelbild. Erst dadurch erhält die emotionale Grenzüberschreitung ihre ganze Ambivalenz und Grausamkeit.

Ambivalent bleibt auch der Titel des Films, der ja einen verhinderten Blick auf einen existierenden Ausgang aus dem Teufelskreis suggeriert. Vielleicht wäre der Wald, den Melanie vor lauter Bäumen nicht sehen kann, tatsächlich ihr Lehrerkollege Thorsten (Jan Neumann), dessen ehrlich gemeinte Annäherung sie aus Unfähigkeit, ihre Schwächen zu zeigen, nicht annehmen kann. Zum Schluss fahren wir mit Melanie tatsächlich durch den Wald, und eine Leichtigkeit und Poesie setzen ein, die dem Film bis dahin fremd waren. Es wird losgelassen und endlich Licht erblickt, aber wie diese Erlösung zu lesen ist, überlässt der Film allein uns.


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