Brüsseler Abrissbirne

EU-Sozialabbau Was die Agenda 2010 und Hartz IV mit der Bolkestein-Richtlinie verbindet

Wer die deutsche Politik verstehen will, muss nach Belgien in Richtung EU-Kommission schauen: 70 Prozent der Gesetze, die im Bundestag verhandelt werden, haben ihren Ursprung in Brüssel, Tendenz steigend. Bis zu 80 Prozent aller EU-Richtlinien wirken sich auf die Kommunalpolitik aus, das fängt beim Umwelt- und Abfallrecht an und macht vor der Energie- und Wasserversorgung nicht halt.

Kaum bekannt ist, dass auch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze europäisch eingebettet sind. Sie gehen zurück auf die im Jahr 2000 verabschiedete "Strategie von Lissabon". Die sieht vor, aus der EU bis 2010 den "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt" zu machen. Zu diesem Zweck soll unter anderem der Binnenmarkt für Dienstleistungen - wie es heißt - vollendet werden. Das bedeutet, bisher abgeschirmte und geschützte Sektoren sollen geöffnet und damit öffentliche Güter und Dienstleistungen weitgehend privatisiert werden. Politisches Handeln hat sich nach der Direktive von Lissabon verstärkt auf Unternehmerfreundlichkeit auszurichten, es hat Steuern zu senken und unter Umständen Arbeitszeiten zu verlängern.

An die Arbeitnehmer ergeht die Aufforderung, flexibler und mobiler auf dem Arbeitsmarkt unterwegs zu sein. Mini- und Ein-Euro-Jobs sowie ein ausgehöhlter Kündigungsschutz gelten dafür als adäquate Instrumentarien.

Die Lissabon-Strategie blickt auf eine beachtenswerte Vorgeschichte zurück. Bereits 1993 empfahl der "Europäische Runde Tisch der Industriellen" (ERT) - ein Lobbyverbund transeuropäischer Konzerne - der EU-Kommission, ein "European Competitiveness Council" mit dem Mandat ins Leben zu rufen, die Wettbewerbsfähigkeit als höchste Priorität auf der politischen Agenda zu führen. Der damalige Kommissionspräsident Jacques Santer folgte diesem Wunsch und richtete 1995 ein Beratergremium ein, das mit 13 prominenten Industriellen, Gewerkschaftern, Bankmanagern, Akademikern und Politikern besetzt war. Ihm saß mit Floris Maljers der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des ERT vor. Dieser erlauchte Kreis entwarf die Lissabon-Strategie.

Kritiker geißeln sie als die "soziale Abrissbirne" Europas; ihre spezifisch deutsche Ausformung findet sie in der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen. Franz Müntefering hat dies jüngst in einem Interview mit dem Online-Nachrichten-Dienst der Europäischen Kommission noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Deutschland habe mit der Agenda 2010 "weitreichende Fortschritte bei der nationalen Umsetzung der Lissabon-Strategie erzielt".

Komplementär zu dieser Strategie wurde im Januar 2004 der Entwurf zu einer Dienstleistungsrichtlinie veröffentlicht, benannt nach dem ehemaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein. Sollte dieser Entwurf demnächst Gesetzeskraft erlangen, würden auf einen Schlag drei Viertel der gesamten EU-Wirtschaft liberalisiert. Denn unter Dienstleistungen werden sämtliche freien Berufe gefasst wie Wirtschaftsprüfer, Architekten oder Rechtsanwälte, aber auch der öffentliche Dienst und die freien Träger der Wohlfahrtspflege fallen darunter. Verschont bleiben nach dem Stand der Dinge nur der Gesundheitssektor sowie hoheitliche Funktionen der jeweiligen Mitgliedsstaaten.

Die Bolkestein-Richtlinie zielt somit auf massive Deregulierungen. Dazu sieht sie parallele Schritte vor: staatliche Auflagen sollen schrittweise reduziert und nationale Rechtsnormen durch das so genannte "Herkunftslandprinzip" systematisch unterlaufen werden. Diesem Grundsatz zufolge unterliegen Dienstleistungsunternehmen in der EU nur noch den Standards ihres Stammlandes. Die Auflagen und Kontrollen des Staates, in den Leistungen transferiert werden, sind gänzlich irrelevant.

Selbst die obligatorische Registratur einer Geschäftsaufnahme will die Kommission verbieten, so dass mit dem so genannten "Herkunftslandprinzip" eine effektive Wirtschaftsaufsicht in der Europäischen Union quasi außer Kraft gesetzt wird. Künftig könnte sich jedes Unternehmen durch die Verlagerung seines Sitzes oder die simple Gründung einer Briefkasten-Firma im EU-Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Normen der Qualifikation, Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz ließen sich auf einfache und billige Weise umgehen. Unternehmen und Anbietern von Dienstleistungen würde es ermöglicht, sich in demjenigen EU-Land registrieren zu lassen, in dem die sozialen Auflagen und die Steuern am niedrigsten sind.

In Deutschland haben selbst als wirtschaftsliberal geltende Politiker von CDU/CSU Bedenken, dem Herkunftslandprinzip ihren Segen zu geben. Im Wahlkampf kündigte die Union an, Bolkestein zumindest entschärfen zu wollen. Auch bei der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden spielte die - ob ihrer Tragweite gern "Bolkestein-Hammer" genannte - Direktive eine erhebliche Rolle. Im Vorfeld der Referenden war Bolkestein zum Symbol für die fortwährende Zerstörung des Sozialen in einer neoliberal dominierten EU avanciert.

Dennoch sprach sich nach dem Wirtschaftsausschuss des Europaparlaments jüngst auch der Binnenmarktausschuss für den Richtlinienentwurf aus. Damit hat die Bolkestein-Norm eine wichtige Hürde genommen.

Am 14. Januar 2006 soll nun das Europäische Parlament endgültig über das Vorhaben entscheiden. Das Plenum wird sich in seinem Votum auch darauf festlegen, welche Änderungen in den nachfolgenden Verhandlungen mit der Kommission und den verantwortlichen Ministern der nationalen Regierungen als notwendig betrachtet werden. Allerdings sollen Revisionsvorschläge, die einmal abgelehnt werden, fortan ohne Belang sein. Insofern sind auch die Versuche sozialdemokratischer Europaparlamentarier gescheitert, das Herkunftslandprinzip teilweise zu entschärfen. Die Bolkestein-Gegner - in Deutschland vor allem Attac und die Linkspartei - setzen auf die Macht der Straße und rufen für Mitte Januar zur Großdemonstration vor dem Sitz des Parlaments nach Straßburg.


Vergleich von Sozialstandards in der EU

(Stand 2004)

Lebensstandard
(BIP pro Kopf*)
Arbeitslose (in %)
Total / Langzeit
Beschäftigte in %
der Bevölkerung
Sozialausgaben
in % des BIP

EU-251009,0 / 4,063,327,7

Deutschland109,29,5 / 4,965,030,5

Polen46,718,9 / 10,251,722,0

Spanien98,111,0 / 3,561,120,2

* Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Kaufkraftstandards; der EU-Durchschnittswert wird gleich 100 gesetzt


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