Nur Altes im Neuen?

Häme ist keine Kritik Es geht um erste Beispiele, die zeigen, wie Menschen sich in einer Weise selbst organisieren, die es historisch so noch nicht gegeben hat

Vor vier Wochen eröffnete Robert Kurz seinen Debattenbeitrag mit einer Absage: "Die Utopien zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Kinderschuhe des Sozialismus. Gegen die miserable frühkapitalistische Wirklichkeit wurden andere Prinzipien ausgeheckt, soziale Formeln für ein ideales Zusammenleben erfunden, "Grundriß und Aufriß" (Marx) einer ganz anderen Gesellschaft gezeichnet, und zwar unbekümmert um die reale historische Entwicklung und deren innere Widersprüche. Der Marxismus beanspruchte demgegenüber, den Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft" (Engels) fortentwickelt zu haben. Sozialer Befreiung sollte die Einsicht in die "Gesetzmäßigkeiten" des Kapitalismus und der Geschichte zu Grunde liegen. Daraus entstand die Idee einer staatlichen Regulation der Arbeit. Der Sozialismus wurde politisch. In dieser Hinsicht geht heute gar nichts mehr." Kein Einwand gegen dieses Urteil, meinen sowohl Annette Schlemm als auch Ulrich Weiß. Aber was, fragen sie zurück, geht denn nun?

Endlich erleben wir wieder Demonstrationen, die nicht mehr wie ein Rinnsal durch die Konsumzonen fließen, sondern die ganze Straßenbreite einnehmen. Alles, was uns seit langem ärgert, wird nun laut anklagend in die Welt gerufen. "Alternativen sind da" - sagt ein Montagsredner in Jena. Ich beginne aufzuhorchen, denn gerade solche Alternativen suche ich verzweifelt. Aber was sagt er nun, unser Redner? Ich bin fassungslos: "Kommt zu uns und unterschreibt unsere Unterschriftenliste." Mehr nicht? Mir fällt der Satz von Robert Kurz ein: Solange wir nicht "Ideen einer grundsätzlich anderen Gesellschaft" entwickeln, kann die kapitalistische Konkurrenz der Interessen nicht durchbrochen werden (Freitag 33 vom 6. August).

Christoph Spehr hat mit seiner alternativen Welt von "Meyer Marx" einen ersten Schritt getan (Freitag 35 vom 20. August). Er fordert die "Vergesellschaftung der Ökonomie", die eine "gesellschaftliche Kontrolle unternehmerischer Entscheidungen" ermöglicht. Anschaulich beschreibt er sein Konzept für einen "Sozialismus Version 2.0". Leider zeigt sich dabei auch, wie sehr seine Vorstellung noch im Alten stecken bleibt. Es ist weiterhin das Kapital, über das die individuell und kommunal getroffenen Entscheidungen sich durchsetzen. Zwar ist es gerechter verteilt, und ein Profitinteresse soll es nicht mehr geben. Aber Spehr übernimmt die Vorstellungen einer Vermittlung zwischen den Akteuren, die ihnen äußerlich ist. Brauchen Menschen tatsächlich immer und notwendigerweise irgendeine Art von "Spielgeld", um sich über ihre Bedürfnisse und ihre Arbeitsteilung zu einigen?

Ich persönlich möchte meine Interessen nicht über die Zuteilung von Kapitalkupons realisieren, sondern direkt, im vernetzten Austausch mit anderen Menschen. Die Beibehaltung des Kapitals im Kapital-Sozialismus von Christoph Spehr sieht so aus, als würde man innerhalb der Sklavenhaltergesellschaft die Sklaven "vergesellschaften" wollen. Wäre nicht gerade die Vorstellung zu überwinden, dass Menschen und Kollektive nur vermittelt über Kapital oder andere sachliche Mittel in Beziehung gebracht werden können? Muss nicht das "warenproduzierende System" selbst zur Disposition stehen, wie nicht nur von Robert Kurz, sondern auch von Stefan Meretz (Freitag 26 vom 18. Juni) und Ulrich Weiß (Freitag 28 vom 2. Juli) gefordert? Wunschzettel und höfliche Appelle auf Unterschriftenlisten, die weder die Machtverhältnisse noch die auf der Warenproduktion beruhenden Organisationsstrukturen unserer Gesellschaft antasten, werden wohl nicht reichen.

Robert Kurz hat in der Vergangenheit schon oft darauf hingewiesen, wie sehr alternative Entwürfe noch innerhalb des Systems verankert sind. Andere Autoren haben diese Kritik ernst genommen und entwickeln Ansätze, die grundsätzlich über Verwertung und Staatlichkeit hinausführen. Stefan Meretz geht es um "Selbstermächtigung jenseits von Staat und Markt" sowie um "Aneignung von unten statt Enteignung von oben". Ulrich Weiß nennt als Ziel eine "Vergesellschaftung, die frei ist von Lohnarbeit, frei von Verwertungszwängen, frei von Staatlichkeit". Diese Zielstellung zeigt einen Horizont auf, der mit bittstellerischen Unterschriftenlisten, bloß abwehrenden Protesten und der Vertretung der unmittelbaren sozialen Interessen noch nicht erreicht ist - so berechtigt und als erste Schritte notwendig sie auch sein mögen. Diese Perspektive wird nicht als abstraktes Modell der Wirklichkeit gegenüber gestellt, sie entsteht nicht aus utopistischer Konzeptheckerei, sondern wird aus den vorhandenen gesellschaftlichen Möglichkeiten und menschlichen Fähigkeiten abgeleitet.

In seinem Beitrag zur Freitag-Debatte nimmt nun die Kritik von Robert Kurz an anderen Autoren eine merkwürdige Wendung. Er nimmt die "soziale Interessenvertretung" gegen die Interessenkritik von Stefan Meretz in Schutz. Er betont, dass die "soziale Interessenvertretung nicht einfach identisch mit der individuellen und betriebswirtschaftlichen Konkurrenz" ist, aber er versucht keine Antwort darauf, wie soziale Interessenvertretung über diese Konkurrenz-, Geld- und Warenförmigkeit hinaus führen kann. Er muss sich dieser Frage auch gar nicht stellen, denn er will Utopien verabschieden, nicht wiederbeleben. Was nun? Wie sollen wir zu den auch von ihm geforderten Ideen einer anderen Gesellschaft kommen?

Schauen wir uns seine Argumente genauer an. Kurz kritisiert an den Vorstellungen von Meretz und Weiß die Orientierung an "unmittelbaren" Nischen-Aktivitäten, an "kampfloser Emanzipation" und "kleinteiligem Selbermachen". Vielleicht lassen sich ihre Texte so einseitig lesen, weil sie gerade jene Momente betonen, die uns auf uns selbst verweisen, die nicht nur abstrakte Modellmacherei, lebensferne Politikasterei und große Theorien beschwören. So fordert Ulrich Weiß ein "unmittelbares Begründen und Verteidigen eines Lebens jenseits von Klasse, Staat, Verwertung". Diese andere Art des Lebens kann uns nicht von außen oder von oben oder von woanders her nahe gebracht werden - wir können sie nur selbst realisieren. Es reicht nicht aus, jegliche Wertvergesellschaftung nur in theoretischen Konzepten zu verdammen - wir müssen diese Negation wenigstens in dem Bereich, den wir jetzt schon und immer noch beeinflussen können, selbst leben, nicht zuletzt auch in der Kultur der Debatte.

Bei der "Freien Software", bemängelt Robert Kurz weiter, gehe es nicht um eine andere soziale Organisationsform. Soweit ich die Diskussionen dazu kenne und mit gestaltet habe, sind genau diese neuen gesellschaftlichen Organisationsformen eines der wichtigsten Themen. Wir haben keine perfekte Lösung anzubieten, weder als Modell der künftigen "Freien Gesellschaft" noch eines ausgetüftelten Programms, um dieses Ziel zu erreichen. Aber wir haben erste Erfahrungen mit einer Produktionsform, die in freier Kooperation eine mittlerweile massenhaft angewendete Innovation hervorgebracht hat.

Simone Weil, eine französische Philosophielehrerin und Kommunistin, verzweifelte in den zwanziger Jahren in Deutschland an der Arbeiterbewegung, weil sie - selbst am Fließband arbeitend - erkennen musste, dass Menschen am Fließband auch wie "Rädchen im Getriebe" denken und von sich aus nicht die Produktion leiten und lenken können. Sie wünschte sich eine Dezentralisierung bei gleichzeitiger Vernetzung und hoher Produktivität, damit die Arbeitenden selbst die wichtigen Entscheidungen treffen können, ohne dass die Effizienz leidet.

Jahrzehnte lang schien dies Utopie zu bleiben. Heute wäre eine solche neue Qualität der Selbstbestimmung möglich. Zumindest die "materiell-technische Basis" steht bereit. Dass kapitalistische Unternehmer die modernen Produktivkräfte in pervertierter Form nur zu ihrem Nutzen einsetzen, ist nicht anders zu erwarten. Aber das Blatt ließe sich wenden. Dabei geht es nicht, wie Rainer Fischbach zu Recht feststellt (Freitag 29 vom 9. Juli) um einen "technologischen Zauberstab, der uns die Zähmung und Lenkung komplexer Systeme erspart". Es geht um erste Beispiele, die zeigen, wie Menschen sich in einer Weise selbst organisieren, die es historisch so noch nicht gegeben hat. Früher mussten wir ja bei aller Wertkritik passen, wenn die Frage kam: Wie soll die Koordination denn sonst funktionieren, wenn nicht über Markt und Geld oder staatliche Pläne und Diktatur? Auch wenn es in manchen Konzepten zunächst nur um Software geht, die wir nicht essen oder anziehen können - erstmals erscheint ein praxistaugliches Modell freier Kooperation am Horizont und damit eine neue Antwort jenseits der beiden alten.

Annette Schlemm ist Physikerin und Philosophin und engagiert sich in der "Zukunftswerkstatt Jena".


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