Laurence Parisot hat ihre Hände unter dem Tisch vergraben, die Lippen leicht zusammengekniffen. Die Chefin des französischen Arbeitgeberverbandes mag dem Premierminister Frankreichs, Jean-Marc Ayrault, nicht applaudieren. Sie bleibt als eine der wenigen im Saal ungerührt. Gerade hat Ayrault die Ergebnisse des Sozialgipfels verkündet und wird dafür von 300 Gewerkschaftern, Lehrervertretern, Feministen und Umweltschützern gefeiert. Den französischen Managern dagegen ist nicht zum Feiern zumute: Mit dem sozialistischen Präsidenten François Hollande ist in Deutschlands Nachbarland eine neue Epoche angebrochen. Der Wandel Frankreichs zu einer linken Republik hat begonnen.
Noch ist Frankreich umgeben von Staaten mit wirtschaftsliberalen Regierungen. Doch die Franzosen haben ihrem Präsidenten alle Macht für einen sozialen Umbau des Landes gegeben. Die Sozialisten stellen nicht nur den Präsidenten, sondern sind auch im Senat und der Nationalversammlung in der Mehrheit. Während Deutschland ganz Europa unter sein Spardiktat zwingen will, nutzen die Sozialisten ihren Einfluss im Land, um den Kontrast zwischen Armen und Reichen zu verringern. Das wird in Europa nicht ohne Folgen bleiben. Ist Hollandes Modell erfolgreich, könnte es sich für andere Länder schnell zum Vorbild entwickeln, wie alternative Politik in der Wirtschaftskrise aussehen kann.
Die Augen auf. Und durch
Hollandes Schlagwort ist „Gerechtigkeit“. Dafür plant seine Regierung Gehaltsobergrenzen und Lohnuntergrenzen sowie ein Verbot von privaten Arzthonoraren. Firmen mit älteren Arbeitnehmern und Berufseinsteigern sollen steuerlich belohnt werden. Und die parteipolitisch besetzten Aufsichtsräte der Fernsehsender bekommen neue Quotenregeln. Hollandes Regierung steht in nahezu jedem Punkt im Gegensatz zum Programm der schwarz-gelben Regierung Deutschlands. Sollten seine Vorhaben bis nach Deutschland ausstrahlen, erschiene Angela Merkels Rede von der „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik bald nur noch als kühl kalkulierte Lüge.
Während die deutschen Bundestagsabgeordneten ihre Diäten erst 2011 um 600 Euro monatlich erhöht haben, kürzte Hollande sein Gehalt und das seiner Minister um 30 Prozent. Sein 60-Punkte-Plan erfasst alle Lebensbereiche. Wird er umgesetzt, werden französische Schüler bald von mehr Lehrern unterrichtet, Arbeitnehmer dürften nicht mehr entlassen werden, sofern ihre Firmen Gewinn machen. Einkommensmillionäre zahlten einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent. Und Rentner beziehen künftig eine höhere Grundrente.
Gleichzeitig hat Hollande in Unternehmen, an denen der Staat zu mehr als 50 Prozent beteiligt ist, die Gehaltsunterschiede auf das Zwanzigfache begrenzt. Dort, wo der Staat nur eine Minderheit hält, soll er weitere Aktionäre von einem Lohnlimit überzeugen. Der Vorstandschef eines Staatsunternehmens soll also künftig maximal 20-mal so viel verdienen wie der Mindestlohn beträgt – das entspricht zurzeit etwa 335.000 Euro im Jahr. Davon betroffen sind beispielsweise Manager der französischen Post, des Energieriesen EDF oder auch der Pariser Flughäfen. Ihre Vorstandsmitglieder verdienen bislang das bis zu 300-fache des Mindestlohnes.
Die Idee dürfte auch die deutsche Debatte um Managergehälter anheizen. Schließlich würde der französische Post-Chef Jean-Paul Bailly dann nur noch knapp ein Zwanzigstel seines deutschen Pendants, Post-Chef Frank Appel, verdienen. Appel bezog 2011 etwa 5,2 Millionen Euro.
Die Pläne klingen ambitioniert. Die Chancen, dass sie umgesetzt werden, sind dennoch hoch. Schließlich kann sich Hollande auf neue Verbündete stützen: Der große Erfolg der Linksfront und ihrer rhetorisch brillanten Gallionsfigur Jean-Luc Mélenchon basierte auf einem neuen Stolz der linken Anhänger. „Ne baissez plus les yeux“ – „senkt nicht mehr die Augen“ – war einer seiner Leitsprüche. Mélenchons Reden wurden zu Festivals, Hunderttausende bejubelten Forderungen nach einem höheren Mindestlohn, der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Banken sowie einem Staat, der Gehälter, Industrie, Mieten, Abgase und Öffnungszeiten reguliert.
Zusammenhalten, wenn nötig
Zwar belächelte Mélenchon Hollande süffisant als „Tretboot-Kapitän“, rief aber umgehend und bedingungslos zur Wahl der Sozialisten auf. Während sich deutsche Sozialdemokraten noch immer angewidert von der Linken abwenden, halten in Frankreich Sozialisten und ihre radikaleren Schwesterparteien zumindest im entscheidenden Augenblick der Wahl zusammen.
Anders als die Konservativen Europas muss Hollande den Bürgern auch keine Angst machen, um seine Projekte zu rechtfertigen: Er spricht von einer gerechteren Zukunft und nicht wie Merkel von „alternativlosen Sparzwängen“, er setzt auf „patriotische Millionäre, die aus Vernunft höhere Steuern akzeptieren.“ Die Konservativen Frankreichs unter dem abgewählten Präsidenten Nicolas Sarkozy hatten noch im Wahlkampf furchteinflößende Szenarien bemüht, von Banken, die Frankreich fallen lassen würden; von einem sofortigen Crash an der Börse. Nichts davon ist eingetroffen. Heute geht es dagegen den konservativ regierten Ländern wie Spanien und Italien am schlechtesten.
Die Mehrheit der Linken in allen Kammern Frankreichs ist ein historisches Ereignis. Denn Hollande gewann, obwohl seine rechten Gegner ihre nationalistischen Diskurse befeuerten und das offen fremdenfeindliche Geschwätz auch in den Medien positives Echo fand. So wurde der sozialistische Kandidat mehrfach in Talkshows gefragt, ob es denn nicht wirklich zu viele Einwanderer gebe. Der große Erfolg der rechtsextremen Front National bezeugt die Sympathie vieler Franzosen für nationalistische Töne. Die konservative UMP verstand es zudem, Hollandes linkes Programm als den „Untergang der Nation“ zu verteufeln und warnte vor einem „Durchdrehen“ der Märkte. Aber auch diese beiden Strömungen hat Hollande besiegt. Nach 25 vergeblichen Euro-Rettungsgipfeln und in den Bankrott getriebenen Staaten wie Griechenland ist die rechte Hegemonie in Frankreich gebrochen.
In Deutschland dagegen regieren weiterhin die erstaunlich ideenlosen Konservativen. Ein Paradebeispiel der deutsch-französischen Ideologie-Barrieren ist das Renteneintrittsalter: Hollande hat es für Arbeitnehmer, die 41 Jahre in die Rentensysteme eingezahlt haben, auf 60 Jahre gesenkt. Schon ein versteuertes Jahresgehalt von insgesamt rund 7000 Euro reicht aus, um als volles Beitragsjahr anerkannt zu werden. Während deutsche Christdemokraten einer Rente mit 70 Jahren das Wort reden und die SPD die Rente mit 67 Jahren selbst eingeführt hat, schlägt Frankreich den entgegengesetzten Weg ein. Als einziges Land in der EU will die Regierung ihre Bürger wieder früher in die Rente schicken. Hunderttausende Franzosen würden dann sieben Jahre früher pensioniert, und die Mehrzahl könnte im Schnitt fünf Jahre ihres Lebens kürzer arbeiten als die Deutschen. Und das bei einer Durchschnittsrente, die mit 1400 Euro wesentlich höher ist als die etwa 1000 Euro in Deutschland.
Letztendlich spielt Hollande auch die moderne französische Familienpolitik in die Hände: Französische Paare bekommen dank umfassender Ganztages-Betreuung und günstiger Krippen durchschnittlich 2,2 Kinder – in Deutschland sind es mit 1,3 nur etwa halb so viele. Schließlich können Frauen in Frankreich trotz Kindern Karriere machen. Das Wort „Rabenmutter“ existiert dort nicht, wohl aber die „Glucke“, die ein paar Monate nach der Geburt noch immer zu Hause bleiben möchte. Das deutsche Betreuungsgeld wird von französischen Rentenexperten als „mittelalterlich“ belächelt.
Kostenlos ist das zentrale Wahlversprechen Hollandes natürlich trotzdem nicht: Der steuerliche Rentenbeitrag wird bis 2017 um jährlich 0,1 Prozent ansteigen. Auch die privaten Verbände, die die Rente für leitende Angestellte mittragen, werden ihre Beiträge voraussichtlich erhöhen. Bislang aber befürworten die Franzosen, für ihre frühere Rente höhere Abschläge zu akzeptieren. Ein frühes Rentenalter gilt vielen Franzosen als Synonym für sozialen Fortschritt, es ist fast ein nationales Kulturgut. Als der abgewählte konservative Präsident Nicolas Sarkozy 2010 das Eintrittsalter auf 62 Jahre erhöhte, gingen sofort Hunderttausende gegen die Reform auf die Straße.
Abkehr von Mitterrand
Hollande verbrüdert sich zurzeit mit den Gewerkschaften und erfüllt einen ihrer zentralen Wünsche: Er will den Mindestlohn von derzeit 1425 Euro monatlich oder 9,40 Euro pro Stunde noch im Herbst um einige Prozentpunkte erhöhen. Ein Mindestlohn der je nach Branche variiert wie in Deutschland lehnt der Sozialist ab: „Der Lohn ist das Minimum, das ein Mensch für ein würdiges Leben braucht – egal ob die Person als Friseur, Handwerker oder Bauarbeiter arbeitet“, sagt Hollande dazu.
Inzwischen haben sich auch mehrere Ökonomen hinter das Programm von Hollande gestellt. Der Pariser Ökonom Michele Aglietti beispielsweise ist ein gern gesehener Gast in französischen Medien. Er sieht in einer sozialeren Wirtschaftsordnung die einzige Möglichkeit, den Euro zu retten. „Nur durch eine gerechtere Politik und beispielsweise höhere Löhne kann unser System gesunden“, so Aglietti. Die Kaufkraft der Angestellten sei das Wichtigste, sagt der Währungsexperte – dann würde sich der Staat auch weniger mit Transferleistungen verschulden müssen. Hollande hat angekündigt, die Staatsverschuldung bis 2013 auf drei Prozent zu reduzieren und dann bis 2017 auf Null bringen zu wollen – trotz sinkender Wirtschaftsleistung. Neue Abgaben sollen das fehlende Geld beschaffen, die Reichensteuer etwa 2,3 Milliarden Euro, eine Zusatzsteuer für Banken soll 1,1 Milliarden Euro bringen, die Schließung von Steuerschlupflöchern noch einmal Summen im zweistelligen Bereich. Zwei Prozent der in die Rente gehenden Beamten will die Regierung nicht durch neue ersetzen.
Die linke Ära Frankreichs beginnt mitten in der Krise. Hollandes großes Vorbild François Mitterand hatte es da scheinbar leichter: Als der Sozialist 1981 an die Macht kam, war Finanzpolitik kein Thema. Die Menschen diskutierten über gleiche Rechte für Frauen, neue Schnellzüge im Land und mehr Ferientage. Mitterrand war zunächst noch wesentlich radikaler als Hollande und holte auch Kommunisten in die Regierung. Er schaffte die Todesstrafe ab und erlaubte Homosexualität, er legalisierte Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung und verstaatlichte 36 Banken. Firmen wurden gesetzlich verpflichtet, Männer und Frauen gleich zu bezahlen.
Anders als Hollande heute wurde Mitterrand aber zwei Jahre später von einer wirtschaftlichen Krise überrascht: Gegen die Entwertung des Francs und die Abwanderung von Firmen setzte Mitterrand auf weniger Regeln in der Wirtschaft und reprivatisierte sogar einige von ihm zuvor verstaatlichte Firmen wieder, um an Geld zu kommen. Diese Kehrtwende enttäuschte viele, sicherte ihm aber offenbar auch seine zweite Amtszeit bis 1995.
Bei Hollande könnte sich die Geschichte nun umgekehrt entwickeln. Er ist kein Revoluzzer à la Mélenchon, sondern eher der nette Linke von nebenan. Er will zwar die Reichensteuer erhöhen, tastet die Eigentumsverhältnisse aber nicht grundsätzlich an. Bislang steigt er jedenfalls nicht aus dem Diskurs des Wachstums aus. Seine Politik beschränkt sich eher darauf, den Arbeitern und Angestellten einen größeren Teil vom Kuchen abzugeben und damit den Wohlstand aller etwas zu erhöhen. Nein, Hollande ist kein Radikaler, sondern ein Reformer. Gerade jetzt könnte ihm die Krise in die Hände spielen. Denn in Frankreich scheint in schlechten Zeiten der Mut für neue Wege eher noch zu wachsen.
Super-Sarko... äh – wer?
Sollte sich die Krise verschärfen, ist auch eine Zwangsabgabe für Reiche möglich, wie sie unlängst das Deutsche Institut für Wirtschaft forderte. Denkbar ist nun auch eine Entschuldung des Staatshaushaltes durch eine bewusste Inflation bei gleichzeitigen Lohnanpassungen. In Hollandes Beraterkreisen soll dies schon diskutiert werden.
Die Krise hat die Franzosen ideologisch verändert. Angesichts der ständigen Drohung einer Staatspleite stimmen auch die strukturkonservativen Franzosen Spitzensteuersätzen zu. Früher galt es französischen Bürger als gewitzt, dass Stars wie Johnny Hallyday, Patricia Kaas oder Alain Delon in der Schweiz gemeldet waren, um zu Hause keine Abgaben bezahlen zu müssen. Der alternde Rockstar Hallyday hatte 2007 Nicolas Sarkozy unterstützt und angekündigt, bei geringeren Abgaben wieder zurückzukehren. Zwar hat Sarkozy tatsächlich die Vermögenssteuer gesenkt, aber Hallyday weilt immer noch in der Schweiz.
Die Franzosen indes jubeln nun denjenigen zu, die sich damit rühmen, zu Hause Steuern zu zahlen. Wie der frühere Tennisspieler und heutige Sänger Yannick Noah, der nicht nur an Hollandes Siegesabend an der Pariser Bastille sang, sondern auch von seinen Millionärskollegen verlangt, wie er „ganz normal“ Steuern zu zahlen. Premierminister Jean-Marc Ayrault bezeichnet es etwas schwülstig als einen „patriotischen Akt, in dem Land Steuern zu zahlen, das einen groß gemacht hat“. Der Wind hat sich in Frankreich gedreht – während in Deutschland sogar die SPD noch immer über einen Spitzensteuersatz von weniger als 50 Prozent diskutiert.
Überhaupt die SPD. Auch sie scheint staunend auf ihre Schwesterpartei zu gucken. Zwar fuhr die SPD-Troika aus Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück schleunigst nach Paris, um sich mit Hollande abzusprechen und abzulichten. Aber ob Vermögenssteuer, Spitzensteuersatz oder frühere Rente – die Vorschläge der deutschen Sozialdemokraten wirken in Frankreich wie ein mutloser, konservativer Firlefanz (siehe Text rechts).
Hollande hilft, dass sich die Fernseh- und Medienlandschaft zu seinen Gunsten verändert. Französische Fernsehsender sind zwar in den Händen von Großindustriellen, der Konzern Bouygues besitzt etwa TF1, den Sender mit der höchsten Einschaltquote. Der Infokanal BFMTV – gerade in Wahlzeiten millionenfach gesehen – gehört dem konservativen Geschäftsmann Alain Weill und startete in einem Dekor, das dem ultrakonservativen US-Sender Fox News ähnelte. Ihre Kommentatoren und Analysten erklärten die Finanzkrise bereits mehrfach für beendet – und bemühen sich nun wieder um Glaubwürdigkeit. Die Ruhmesarien auf neoliberale Rezepte sind jedenfalls verstummt, ebenso wie der Jubel für Nicolas Sarkozy. Damals wurde „Super-Sarkozy“ distanzlos als rastloser Reformer gefeiert.
Heute erfrischt Hollande die Debatten mehr, als man es von ihm erwarten konnte. Dies musste schon der britische Premier David Cameron spüren, als er den „roten Teppich“ für französische Steuerflüchtlinge ausrollen wollte, die Hollandes 75-Prozent-Steuer für Millionäre fürchten. „Der französische Spitzensteuersatz lag lange unter dem britischen“, sagte Hollande in einer Pressekonferenz. Aber trotzdem hätten die Engländer nur ihren steuerfreien Zweitwohnsitz in Frankreich angemeldet. Und, fügte Hollande mit einem breiten Grinsen hinzu, würden diese ausländischen Villenbesitzer künftig „auch höher besteuert“.
Laurence Parisot, die missmutige französische Arbeitgeberchefin, war nach der Sozialkonferenz übrigens vor allem sauer über eine Aussage: Hollande hatte das einst von Sarkozy proklamierte Gesetz für „wettbewerbsfähige Arbeit“ für unsozial erklärt. Es hätte Arbeitgebern erlaubt, die Gehälter frei an ihre wirtschaftlichen Erfolge anzupassen. Arbeitnehmer hätten mit kleineren Löhnen und längeren Arbeitszeiten rechnen müssen, ohne dass ihre Chefs verpflichtet gewesen wären, sie in besseren Zeiten besser zu bezahlen. Ein Alptraum für die französischen Gewerkschaften. Sie hoffen nun, dass Hollande die neue Macht der Linken nutzt, um das Gesetz zu kippen. Und nicht nur sie hoffen. Schließlich wäre für die französische – und die europäische Linke – nichts schlimmer, als im Moment ihrer größten Chancen zu versagen.
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