Jeder kennt ihn nur unter seinem Spitznamen „Tschitsch“ und erkennt ihn sofort an seiner weißen, welligen Haarmähne. Wenige können sich noch an den vollen Namen des achten sagenhaften Bürgermeisters von Tel Aviv, Shlomo Lahat, erinnern, der fast 20 Jahre lang, von 1974 bis 1993, so viel zum kulturellen Reichtum und zu der modernen Entwicklung der „weißen Stadt“ am Mittelmeer beigetragen hat. Doch fast niemand weiß, dass Shlomo Lahat im November 1927 als Salo Lindner in der Großen Präsidentenstraße in Berlin das Licht der Welt erblickte. Sein Glück war es, dass seine Eltern 1933 noch rechtzeitig mit ihrem sechsjährigen Sohn nach Palästina auswandern konnten.
Der kleine Salo wusste natürlich nicht, dass zur selben Zeit, als er in Rechovot, einer kleinen Stadt südlich von Tel Aviv, aufwuchs, schon eine Reihe jüdischer Architekten im Tel Aviv der 30er Jahre viele Wohnhäuser erbauten, die dem klaren, modernen Stil der Bauhaus-Schule aus Dessau von Walter Gropius und Erich Mendelsohn verpflichtet waren. Diese Bauhaus-Gebäude, seit 2003 von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt, wurden zu einem wichtigen Glied in der langen Kettenbrücke, die Tel Aviv mit Europa und dem Westen verbindet.
Lahat blickt heute mit gerechtfertigtem Stolz auf „sein“ Tel Aviv, zu dessen vielen Errungenschaften seiner Stadtverwaltung eine wunderschöne Strandpromenade am Mittelmeer, ein Diaspora-Museum, neue Theatergebäude, die Entwicklung der Universität, das Tel-Aviv-Museum und vielleicht als größte Leistung – gegen den Widerstand vieler Kritiker und Pessimisten – eine erfolgreiche Oper zählen.
„Ich liebe Tel Aviv mit Herz und Seele“, sagt „Tschitsch“ mit jugendlicher Begeisterung, trotz seiner bald 82 Jahre. „Tel Aviv ist die Verkörperung von Israel und vorher des jüdischen Palästinas. Ich glaube an Tel Aviv und erlebe es jeden Tag von Neuem. Es ist der Puls des Landes. Tel Aviv ist Israels kulturelle Hauptstadt, in der unsere Künstler, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Filmemacher und Choreographen ihre Werke schaffen. Es ist das Zentrum der geschäftlichen und finanziellen Tätigkeit des Landes. Israels Börse ist in Tel Aviv. Alle Banken und großen Firmen sowie viele High-Tech-Unternehmen haben ihre Hauptquartiere in Tel Aviv. Die Zentren fast aller politischen Parteien sind in Tel Aviv. Doch soll es nie die Hauptstadt von Israel werden. Diese historische Rolle wird immer Jerusalem vorbehalten sein.“
In den 20 Jahren seiner Stadtverwaltung hat Lahat zweifellos das neue Tel Aviv geprägt. Nur Tel Avivs erster gründender Bürgermeister, Meir Dizengoff, hat seine Amtszeit um fünf Jahre übertroffen. „Tschitsch“ ist nicht glücklich über die schnell wachsende Zahl der Hochhäuser, die mit ihren über 40 verglasten Stockwerken ein neues, dem Tel Aviv seiner Zeit fremdes Stadtbild schaffen. „Doch das ist anscheinend der Geist der Zeit.“
Es begann mit einer Lotterie
Es ist kaum zu glauben, dass erst vor 100 Jahren, am 11. April 1909, die ersten 66 Familien in den Sanddünen, drei Kilometer nördlich der arabischen Stadt Jaffa, die Lose für ihre Grundstücke in der neu geplanten Gartenvorstadt Achusat Bajit – Anwesen des Heims – gezogen hatten. Die Auslosung mit Meermuscheln wurde von Akiva Arieh Weiss geleitet, dem Sekretär der Achusat-Bajit-Genossenschaft, der schon drei Jahre vorher die wenigen jüdischen Einwohner von Jaffa mit seiner Idee begeistert hatte, ein „New York im Land Israel“ zu erbauen.
Die ersten Familien konnten schon am Ende desselben Jahres in ihre Wohnungen ziehen, doch erst, nachdem man einige Streitigkeiten hatte schlichten müssen.
Es sollte zunächst entschieden werden, wie viele Einwohner diese Gartenvorstadt haben dürfe. Ob es erlaubt sei, Geschäfte zu öffnen, wie breit die Straßen sein sollten, damit die Grundstücke nicht auf zu viel Boden verzichten müssten, und ob zusätzlich zu den arabischen Bauarbeitern auch jüdische Facharbeiter mit höheren Löhnen beschäftigt werden dürften.
Schon ein Jahr später bestätigt der Leitungsausschuss von Achusat Bajit den Vorschlag von Menachem Schenkin, den Ort Tel Aviv zu nennen. Damit wurden die ersten Einwohner von Achusat Bajit zu den Gründern der Stadt Tel Aviv.
Altneuland
Die Idee für diesen Namen geht auf den hebräischen Titel der Übersetzung von Theodor Herzls Zukunftsroman Altneuland zurück, den der Gründer der zionistischen Bewegung 1902 veröffentlicht hatte. Der bekannte zionistische Publizist Nachum Sokolow übersetzte das Buch noch im selben Jahr auf Hebräisch. In einem Brief an Theodor Herzl erklärte Sokolow die Bedeutung des Namens: „Tel“ als Hügel archäologischer Ruinen und „Aviv“ als der Frühling, also eine Verbindung von alt und neu.
So sind etliche Namen im jungen Tel Aviv mit der Person Herzls verbunden. Die Hauptstraße von Tel Aviv war damals die Herzl-Straße im Süden der heutigen Stadt. Sie führte von dem schnell erbauten, imposanten Gebäude des Herzliyah-Gymnasiums bis zur Jaffa-Jerusalem-Eisenbahn. Der erste Bürgermeister, Meir Dizengoff, musste noch bis 1922 als Vorsitzender von Achusat Bajit amtieren, bis die britischen Mandatsbehörden nach dem Ersten Weltkrieg Tel Aviv als Stadt anerkannten und ihm den Titel eines Bürgermeisters bestätigten.
Daliah Golomb, die 81-jährige dynamische Friedensaktivistin und Tochter der Golomb-Shertok (Sharett) Gründerfamilien der Stadt Tel Aviv und des Staates Israel, erinnert sich lebhaft an das Tel Aviv der 30er und 40er Jahre. Ihr Vater Eliahu Golomb war einer der Gründer der Haganah-Verteidigungsmiliz der jüdischen Einwohner Palästinas und ihr Onkel, Moshe Shertok (Sharett), war der Leiter der politischen Abteilung der Jewish Agency for Palestine und der erste langjährige Außenminister des Staates Israel.
„In unserem Haus auf dem Rothschild Boulevard 23, das heute das Museum der Haganah ist, haben jahrelang die wichtigsten politischen Debatten der Führung der zionistischen Arbeiterbewegung stattgefunden“, erinnert sich Daliah. „Man könnte sagen, dass bei uns zu Hause eigentlich die Fundamente für die Gründung des Staates Israel gelegt wurden, als wir noch politische Kämpfe gegen das Einwanderungsverbot der britischen Mandatsregierung führen mussten und gleichzeitig viele Tausende jüdische Palästinenser als Freiwillige im britischen Militär während des Zweiten Weltkriegs dienten.“
Langer Kampf gegen die Araber
Tel Aviv kannte nicht immer nur große Feiern und ein sorgenfreies Strand- und Nachtleben. Das verhältnismäßig friedliche Zusammenleben zwischen jüdischen und arabischen Einwohnern in Jaffa nahm ein schnelles Ende, nachdem Großbritannien im Jahr 1921 das Mandat des Völkerbunds über Palästina und Transjordanien übernommen hatte. Bei den ersten blutigen Zusammenstößen wurden 1921 in den Grenznachbarschaften zwischen Jaffa und Tel Aviv Dutzende Menschen getötet, unter ihnen der bekannte hebräische Schriftsteller Josef Chaim Brenner.
Die nächsten Kämpfe begannen im Jahre 1929, in dem jüdische Gemeinden in arabischen Städten im ganzen Lande angegriffen wurden. Dann folgte der arabische Aufstand 1936, der das Land über drei Jahre – bis zum Anfang des Zweiten Weltkriegs im September 1939 – in bittere Kämpfe zog, obwohl die britische Mandatsregierung immer nur von „Unruhen“ sprach. Da das jüdische Tel Aviv keinen Zugang zum Hafen im arabischen Jaffa hatte, musste in aller Eile ein provisorischer Hafen errichtet werden, dessen ehemalige Hangars heute ein großes Restaurant- und Einkaufsgebiet beherbergen.
Keimzelle des neuen Staates
Der Krieg führte zwar zu einer gewissen Ruhe zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung, aber im September 1940 wurde Tel Aviv von der italienischen Luftwaffe angegriffen. Über 100 Todesopfer und Zerstörungen im Zentrum der Stadt waren die Folge. Die Jahre 1946/47 schufen eine neue Front zwischen dem britischen Militär und den jüdischen Untergrundverbänden, die für das Einwanderungsrecht der Überlebenden des Holocausts kämpften. Im Sommer 1946 verhängten die britischen Militärbehörden für vier Tage ein Ausgangsverbot über Tel Aviv.
Der Krieg von 1948, der auf die Ablehnung und Bekämpfung des Teilungsplans der Vereinten Nationen vom November 1947 seitens der arabischen Staaten folgte, brachte auch das Ende der arabischen Stadt Jaffa mit sich, einer der ältesten Hafenstädte der Welt. Nach bitteren Kämpfen im Grenzgebiet zwischen Jaffa und Tel Aviv flüchtete die Mehrheit der über 70.000 arabischen Einwohner von Jaffa über Land und Wasser nach Gaza, um nicht zwischen die Linien der heranrückenden ägyptischen Armee und der jüdischen Truppen zu geraten.
Einige Tausende entschlossen sich dazu, unter israelischer Herrschaft zu verharren, und bilden heute eine Gemeinde von ungefähr 20.000 israelischen Palästinensern in Jaffa. Anfang der 50er Jahre wurde die Stadt Tel Aviv zwar in Tel Aviv-Yafo umbenannt, doch die arabischen Viertel werden bis heute benachteiligt. Nur wenige Fahnen von Tel Aviv und von Israel werden wahrscheinlich in Jaffa zu sehen sein, wenn auch einige prominente arabische Einwohner dem Ehrenausschuss der 100-Jahre-Feierlichkeiten angehören.
Historische Wahrzeichen und Hochhaustürme
Bei allem Stolz auf die Errungenschaften der ersten hebräischen Stadt muss man leider auch feststellen, dass das junge Tel Aviv nicht immer gut mit seinen historischen Wahrzeichen umgegangen ist. So wurde schon in den 60er Jahren das historische Gebäude des ersten hebräischen Gymnasiums Herzliya geopfert, damit an seiner Stelle das erste Hochhaus Tel Avivs, der Shalom Tower mit seinen 32 Stockwerken, errichtet werden konnte.
Auch der Saal der ersten Oper am Strand in Tel Aviv wurde abgerissen, trotz der Tatsache, dass dort das erste israelische Parlament – die Knesset – 1949 ein ganzes Jahr getagt hatte, bevor es nach Jerusalem übersiedelte. Auch das Mugrabi-Kino und -Theater, das jahrzehntelang an der Ecke der Allenby-/Ben-Yehuda-Straße eines der populären Wahrzeichen Tel Avivs war, wurde vor etlichen Jahren dem Erdboden gleichgemacht, um wahrscheinlich noch einem Hochhausturm Platz zu machen.
Als am vergangenen Samstagabend Tel Aviv die Feiern zu seinem 100. Geburtstag mit Posaunen, klassischer Musik, Tänzen auf den Dächern und Feuerwerk auf dem Rabin-Platz vor dem Rathaus eröffnete, mussten viele Tausende daran denken, dass vor bald 14 Jahren an diesem Platz, nach einer begeisterten Friedenskundgebung, Israels geschätzter Ministerpräsident Yitzhak Rabin zum Opfer eines Fanatikers wurde, der mit allen Mitteln Frieden und Ausgleich mit den Palästinensern verhindern wollte. Ist es ihm am Ende vielleicht sogar gelungen?
Die Geschichte Tel Avivs
1882 Nach Pogromen in Russland emigrieren erste Juden nach Palästina.
1906 Einwanderer, die sich in der jahrtausendealten Hafenstadt Jaffa angesiedelt hatten, gründen nordöstlich der Stadt einen Gartenvorort.
11. April 1909 Die jüdische Baugesellschaft Nahalat Binyamin gründet im Norden Jaffas eine neue Siedlung. Der Tag gilt als Gründungsdatum der Stadt.
21. Mai 1910 Die Siedlung erhält den Namen Tel Aviv (Hügel des Frühlings), benannt nach der hebräischen Übersetzung
von Theodor Herzls Buch Altneuland.
1914 Die neue Siedlung umfasst rund 100 Hektar und hat 2.000 Einwohner.
19141918 Während des Ersten Weltkrieges vertreiben die Ottomanen die jüdischen Siedler aus Tel Aviv und Jaffa. Nach der Besetzung Palästinas durch die britische Armee kehren die Juden zurück.
1. Mai 1921 Es kommt zu einem Aufstand der Araber in Jaffa, bei dem 47 Juden getötet werden. Tausende Juden verlassen daraufhin Jaffa und gehen nach Tel Aviv.
11. Mai 1921 Die Briten verleihen Tel Aviv eigene kommunale Rechte.
1925 Die Siedlung zählt 34.000 Einwohner.
19291939 Während der sogenannten Fünften Aliyah (Einwanderung) kommen viele deutsche Emigranten auf der Flucht vor den Nazis nach Tel Aviv. Beeinflusst vom Bauhaus-Stil, ent-
steht die Weiße Stadt, ein Ensemble von 4.000 Häusern und seit 2003 als Weltkulturerbe anerkannt.
12. Mai 1934 Tel Aviv erhält das Stadtrecht.
1936 Ein eigener Hafen wird gebaut.
13. Mai 1948 Im Unabhängigkeitskrieg erobern jüdische Truppen Jaffa. Am folgenden Tag wird in Tel Aviv die Unabhängigkeit des Staates Israels deklariert.
1950 Tel Aviv und Jaffa vereinigen sich. Die Stadt nennt sich offiziell Tel Aviv-Yafo und hat mehr als 200.000 Einwohner.
19601990 Mit 390.000 Einwohnern erreicht die Stadt Anfang der 60er Jahre einen ersten Höchststand. Bis Ende der 80er Jahre sinkt die Zahl auf 317.0oo, um nach dem Ende des Kalten Krieges wieder zu steigen.
4. November 1995 Premierminister Yitzhak Rabin wird in der Stadt ermordet.
2009 Mit 390.000 ist Tel Aviv die zweitgrößte Stadt Israels und Sitz fast aller diplomatischen Vertretungen.
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