Friss oder stirb

Agrarreform in Brasilien Lulas enttäuschende Zwischenbilanz

Präsident Lula Inácio da Silva hatte vor seinem Amtsantritt versprochen, die Agrarreform voran zu treiben. Was seither geschah, bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück. So das Fazit einer Untersuchungsmission der Menschenrechtsorganisation FIAN und des weltweiten Kleinbauernnetzwerk La Vía Campesina. Neben einer parteilichen Justiz und ineffizienten staatlichen Institutionen steht nicht zuletzt das Beharren auf einer exportorientierten Agrarwirtschaft Fortschritten im Wege.

"Wir wissen heute nicht, was wir morgen essen sollen", sagt Luísa den Besuchern von FIAN und La Vía Campesina. Die Sprecherin der etwa 280 Familien, die 1996 das 300 Hektar umfassende brachliegende Landstück des Engenho Prado besetzten, kämpft mit den Tränen. Zweimal sind sie durch private Sicherheitskräfte des Großagrariers João Santos und die Militärpolizei von ihrem Land vertrieben worden. Der für seine Brutalität berüchtigte Einsatzleiter Colonel Matos hatte am 31. Oktober 2003, dem Vorabend der letzten Vertreibung, sogar das lokale Hospital angewiesen, die Aufnahme von Verletzten vorzubereiten. Und es bestand aller Grund dazu.

Die traurige Ironie der Geschichte: Kurz zuvor noch hatte die Regierung des Präsidenten Lula Inácio da Silva Engenho Prado als Erfolgsmodell für eine wirksame Bekämpfung des Hungers gepriesen. Selbst ohne Landtitel und Zugang zu Krediten konnten dort die Bauernfamilien Beachtliches leisten. Die Erträge aus ihrem ausschließlich ökologischen Anbau - Mais, Bohnen, Maniok, Salat sowie aus der Tierhaltung, Fisch- und Bienenzucht - reichten nicht nur zur Eigenversorgung, sondern wurden auch auf zehn Wochenmärkten der Region zum Verkauf angeboten.

Macht, sehr viel Macht - dem Großgrundbesitz sind alle Mittel Recht

"Wir können in vier Jahren nicht alle Fehler der letzten 500 Jahre wiedergutmachen", meinte Lula in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País vom 20. Juni 2004. Dem lässt sich nicht widersprechen, andererseits dokumentiert der Fall Engenho Prado schonungslos die Ohnmacht der jetzigen Regierung gegenüber den engen Verflechtungen zwischen Großgrundbesitz und Justiz. Lula hatte ein Enteignungsdekret für 2.000 der von den Familien in Engenho Prado beanspruchten 2600 Hektar unterzeichnet - und doch so gut wie nichts bewirkt. Wie so oft gelang es dem ehemaligen Besitzer, dem erwähnten João Santos, durch einen Einspruch bei Gericht einen Landübertrag zu verhindern. Nun liegt die Entscheidung über den Fall beim Obersten Gerichtshof in Brasilia. Juristisch stehen die Chancen für die Bauern nicht schlecht, nur weiß niemand, wie lange die Familien noch am Straßenrand ausharren können. Schon jetzt sind sie durch Hunger, Krankheiten und Depressionen sichtlich gezeichnet.

Zur Parteilichkeit der Justiz gesellen sich Behäbigkeit, Ineffizienz, personelle Unterbesetzung - mitunter auch Korruption - der Agrarreformbehörde INCRA. Der Macht des Latifundismus kann - oder will - sie oft nur wenig entgegen setzen. "Mitunter haben wir den Eindruck, dass INCRA-Beamte absichtlich Formfehler begehen, damit die Enteignung juristisch anfechtbar ist", glaubt ein Gerichtsmitarbeiter. Auf seine Brieftasche deutend, fügte er hinzu: "Die Großgrundbesitzer haben Macht, sehr viel Macht!"

Lula selbst geißelte das "administrative Desaster" als unangenehmste Überraschung seiner Präsidentschaft, doch entsteht zuweilen der Eindruck, die institutionellen Blockaden zumindest in der Agrarreformbehörde haben unter Lula nicht ab-, sondern zugenommen. Als das Gros der INCRA-Mitarbeiter von März bis Juli in einen fast landesweiten Streik trat, war die Agrarreform nahezu paralysiert.

So schwer das Erbe der Vergangenheit auch auf allen Reformansätzen lasten mag: es kann nicht als Erklärung dafür herhalten, dass heute die Umverteilung von Land weit schleppender vonstatten geht, als das unter der Vorgängerregierung des Präsidenten Henrique Cardoso der Fall war. Marcelo Resende, bis Mitte 2003 Leiter von INCRA, zeichnet denn auch ein eher düsteres Bild: "Seit Beginn der Agrarreform gab es bei den Großgrundbesitzern noch nie eine derartige Neigung, mit Gewalt gegen Landlose vorzugehen. Und noch nie sind so wenig Familien angesiedelt worden wie 2003."

Auch in diesem Jahr sieht es bislang nicht besser aus. Nach dem Nationalen Agrarreformplan (PNRA) der Regierung sollten bis Ende 2006 etwa 400.000 Familien Land erhalten, allein 2004 war an 115.000 gedacht. Agrarreformminister Miguel Rossetto ist zwar davon überzeugt, diese Ziele erreichen zu können, muss aber einräumen, dass in diesem Jahr erst 17.000 Familien angesiedelt wurden, was darauf schließen lässt, 2004 werden die Zahlen deutlich hinter den Vorgaben der Regierung zurück bleiben.

"Crédito Fundiario" - die Weltbank und das Modell "marktgestützte Agrarreform"

Kein Wunder, wenn unter diesen Umständen die Landlosen-Bewegung MST (*) davon ausgeht, dass über 200.000 Familien weiter in Zeltlagern (acampamentos) darauf warten müssen, in die Vergabe von Boden einbezogen zu werden. Insgesamt sind in Brasilien zur Zeit etwa 4,5 Millionen Bauernfamilien ohne Land, obwohl 166 Millionen Hektar - 44 Prozent der nutzbaren Fläche - nicht produktiv bewirtschaftet werden, so dass dieser Boden laut Verfassung jederzeit gegen Entschädigung enteignet und an Landlose verteilt werden könnte.

Zweifel am politischen Willen zu einer wirklich umfassenden Agrarreform sind angebracht. Die bescheidenen Ziele des PNRA und die noch bescheidenere Umsetzung deuten darauf hin, dass auch Lula vor einem großen Konflikt mit dem Großgrundbesitz zurückschreckt. Ein weiteres Indiz für die Ambivalenz der Regierung ist deren Festhalten an der sogenannten "marktgestützten Landreform". Anders als bei einer "klassischen Agrarreform" verzichtet dieses von der Weltbank entworfene und mitfinanzierte Programm auf Enteignungen und setzt auf das nachfrageorientierte Prinzip des "willing buyer - willing seller". Das heißt, mit Hilfe einer flexiblen Kombination aus Krediten und Subventionen sollen Zusammenschlüsse von landlosen Bauern Ländereien eines verkaufswilligen Grundeigentümers erwerben und notwendige Erstinvestitionen zu deren Bewirtschaftung tätigen. Nur wer die dazu aufgenommenen Kredite zuzüglich Zinsen innerhalb einer bestimmten Frist zurückzahlt, darf das Land behalten. Über Cédula da Terra - das 1996 gestartete Pilotprojekt der Weltbank - haben bisher 15.000 Familien Land erhalten. Aufgrund überhöhter Preise, einer marginalen Lage und schlechter Bodenqualität können indes nur die Wenigsten die in Anspruch genommenen Darlehen zurück zahlen, so dass ihnen nicht nur der Verlust des zwischenzeitlich bewirtschafteten Bodens droht, sondern eine noch größere Armut als zuvor.

Vor ihrem Eintritt in die Regierung hatte Lulas Arbeiterpartei (PT) die Kritik an diesem Reformmuster geteilt. In die Verantwortung gekommen, verteidigte sie nicht nur das Weltbank-Modell, sondern betrieb auch dessen Fortentwicklung: Nun sollen bis Ende 2006 130.000 Familien mit Hilfe des leicht modifizierten Nachfolgeprogramms Crédito Fundiario zum Landerwerb ermutigt werden. Es ist zu befürchten, dass es den neuen "Begünstigten" kaum anders ergeht als den Klienten von Cédula da Terra, so dass letzten Endes die eigentliche Reform völlig im Schatten des marktgestützten Programms steht. Der zuständige Minister Miguel Rossetto und INCRA-Chef Rolf Hackbart bestreiten dies: Durch das marktgestützte Programm würden nur solche Ländereien erfasst, die unter der für eine Enteignung erforderlichen Mindestgröße lägen. Dem halten die Kritiker entgegen, Crédito Fundiario beanspruche einen Großteil des Budgets, das dem Ministerium für ländliche Entwicklung (MDA) für eine Agrarreform zur Verfügung stehe. Indirekt muss Miguel Rossetto diesen Sachverhalt bestätigen: "Wir alle sind uns der Dringlichkeit einer schnelleren Agrarreform bewusst. Doch ist der Handlungsspielraum durch finanzielle Engpässe begrenzt." Warum aber investiert sein Ministerium dann einen Großteil dieser knappen Ressourcen in ein Programm, das bislang keine Erfolge zu verzeichnen hat? Ein maßgeblicher Grund dafür liegt klar auf der Hand: Die Weltbank ist nicht bereit, für ein anderes als das marktgestützte Modell Kredite zu vergeben. Friss oder stirb, lautet die Devise. Das hehre Prinzip der "Ownership" erweist sich als leere Worthülse.

Um mit eigenen finanziellen Ressourcen gegen zu steuern, fehlt dem brasilianischen Staat der Spielraum. Um die externen und internen Schulden abzubauen, sind derzeit pro Jahr etwa 50 Milliarden Dollar aufzubringen. Zum Vergleich: 2,5 Milliarden Dollar sind pro Jahr für Sozialprogramme und Infrastruktur verfügbar. "Wenn Brasilien eine Reduzierung des jährlichen Schuldendienstes um nur 2,5 Milliarden Dollar gewährt würde, könnten wir unsere Investitionen im sozialen Bereich verdoppeln", so der Berichterstatter der brasilianischen Menschenrechtsplattform (**), Flavio Schieck Valente. Darüber sollte Lula mit den Gläubigern verhandeln.

Bis es dazu kommt, entscheidet weiter die Last der Verbindlichkeiten über Agrarreform und Agrarpolitik. Der Schuldendienst zwingt förmlich zu einer Favorisierung der exportorientierten und auf Monokulturen basierenden Agro-Industrie. Allein durch Sojaexporte hat Brasilien 2002 sechs Milliarden Dollar an Devisen eingenommen, die für den Schuldendienst unentbehrlich sind. Für Agrarminister Roberto Rodriguez, einen Zuckerbaron und Lobbyisten der Agro-Industrie, ein gewichtiges Argument gegen eine umfassende Landreform und für eine gezielte Förderung der Soja-, Zucker- und Eukalyptusproduktion. Die Priorität des Exportsektors wirkt sich auch auf die Agrarverhandlungen in der Welthandelsorganisation WTO aus. Zwar tritt die von Brasilien geführte Gruppe der 20 starken Entwicklungs- und Schwellenländer (G 20) für einen effektiven Schutz der heimischen Produktion ein - ihr vordringliches Anliegen aber bleibt eine durchgreifende Marktöffnung der EU und USA zugunsten der eigenen Agrarausfuhren.

Dabei sind die Effekte einer solchen Exportsteigerung auf die Ernährungssicherheit der Entwicklungsländer durchaus zweifelhaft. So ging mit der Expansion der Sojaanbauflächen von 10,6 Millionen (1993) auf 18,5 Millionen Hektar (2002) seit 1994 ein deutlicher Rückgang der Anbauflächen für die wichtigen Nahrungsmittel Reis, Bohnen, Maniok und Weizen einher. Vor allem im Nordosten Brasiliens hat der Sojaanbau zu vielen Landkonflikten, einer Verdrängung von Kleinbauern und weiterer Landkonzentration geführt. Wer eine solche Entwicklung befördert, der kann in der Agrarreform nichts anderes als ein Hemmnis sehen.

15 bis 20 Dollar im Monat - die Hungernden bleiben Almosenempfänger

Die Zahl der Hungernden von offiziell 44 Millionen auf null zu senken, war erklärtes Ziel des Präsidenten Lula. Dieses Versprechen brachte ihm einen überwältigenden Zuspruch. Manches ist seither geschehen: 4,5 Millionen Familien erhalten inzwischen regelmäßige Zahlungen, um damit ihren Grundbedürfnissen nachkommen zu können. Allerdings reichen die 15-20 Dollar pro Monat und Familie bei weitem nicht aus. Zu kurz greift das Programm vor allem deshalb, weil es die Ursachen des Hungers nicht berührt. Die Hungernden bleiben letztendlich Almosenempfänger, anstatt in die Lage versetzt zu werden, sich selbst zu ernähren.

(*) Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra

(**) Zusammenschluss diverser NGO

Der Autor ist Agrarreformreferent von FIAN-Deutschland und hat an der Fact Finding Mission in Brasilien teilgenommen.


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