Die sonst vor Verkehrsgewirr der Fahrräder und Mopeds aufbrausende Hang-Ma-Straße in Hanois Stadtkern ist von Polizisten abgeriegelt, die Hunderte von Schaulustigen zurückhalten. Bekleidet mit dem graziösen Ao Dais, den langen Hosenanzügen der Vietnamesinnen, radeln ganze Mädchenklassen anmutig auf altmodischen Fahrrädern bis vor die Absperrungen, um als Zaungäste dabei zu sein. Dahinter sind Fahrradrikschas mit älteren Damen unterwegs, die ihre auf dem Markt erstandenen Anschaffungen wie Lotusblütensalat, ein Baguette oder getrockneten Tintenfisch im Schoß halten und an einer Garküche schnell noch eine Zuckerrohrlimonade schlürfen. Huren bieten ihre Dienste und in Körben Obst an. Arbeiter kehren vom Streik zurück. Und Restaurants mit so fremdländischen Namen wie Bit Tet oder Banh Tom Ho Tay heißen plötzlich Les Leliosque Ajounaux oder Caravelle. Das My Kinh am Le-Loi-Boulevard ist zum Hôtel d´Alsace Lorraine mutiert. Das Hanoi des Jahres 2001 soll Atmosphäre und Charisma der frühen fünfziger Jahre im kolonialen Saigon verströmen, wie Regisseur Phillip Noyce den 400 Komparsen klarzumachen versucht, die sich redlich mühen, schauspielerische Talente zu offenbaren.
"Mein Rolle besteht darin, vor einem Zuckerwasserstand um Kunden zu werben", erklärt Nguyen thi Hieu, die sonst an der Gewerkschaftshochschule studiert. "Das klingt einfach. Aber ich bin wirklich gestresst, weil ich versuche, meine Rolle sehr eindrücklich zu gestalten."
Graham Greenes Vietnam-Moritat Der stille Amerikaner wird derzeit vor Ort und in Australien verfilmt. Der renommierte englische Darsteller Michael Caine spielt den Opium rauchenden englischen Journalisten Fowler, der Amerikaner Brendan Fraser den naiven amerikanischen Geheimagenten Alden Pyle und die vietnamesische Schauspielerin Do Hai Yen gibt die von beiden umworbene Phuong. Vor der Hang-Ma-Straße Nr. 93, im Film Fowlers Saigoner Wohnung, wirkt Do Hai Yen so petite und fragil, dass sie eher einer schüchternen Oberschülerin als einem Tanzmädchen ähnelt, das zu mieten ist und ihren Klienten in der Rue Catinat die Opiumpfeife richtet. Doch ist das nicht der entscheidende Makel einer Inszenierung, die Graham Greene in arges Erstaunen versetzt hätte.
Der stille Amerikaner Pyle ist wie Fowler und nahezu alle Charaktere in Greenes Roman eine gebrochene, zwiespältige Gestalt. Das französische Kolonialsystem verachtend und die Kommunisten hassend, sucht er im Saigon der frühen Fünfziger, bewaffnet mit Vietnamkenntnissen, die nur aus Büchern stammen, eine Dritte Kraft zu etablieren, die eines Tages mit amerikanischer Unterstützung über General Navarre (*) und Ho Chi Minh triumphieren soll. Als eine von ihm organisierte Bombenattacke nicht das gewünschte Ziel erreicht, dafür aber 200 unbeteiligte Frauen, Kinder und Männer tötet, ist er zunächst erschüttert, schiebt das Schuldbewusstsein aber schnell beiseite, erklärt die zerfetzten Körper zu Kriegsopfern und klagt über seinen blutverschmierten Schuh: "Ich muss ihn putzen, bevor ich zum Gesandten gehe."
"Da hast du deine Dritte Kraft und deine Nationale Demokratie", ereifert sich Fowler, "ein paar Dutzend abgerissene Beine." Doch dann beruhigt er sich wieder und denkt: "Was hilft es schon, er wird immer unschuldig sein, du kannst den Unschuldigen keinen Vorwurf machen, sie sind immer schuldlos. Alles, was du tun kannst, ist, sie kontrollieren oder eliminieren. Unschuld ist eine Art Wahnsinn." Pyle "war undurchdringbar geschützt von seinen guten Absichten und seiner Ignoranz", schreibt Graham Greene.
Graham Greenes Roman "Der stille Amerikaner"
Reichlich zwei Jahre vor der Schlacht um die Festung Dien Bien Phu in Nordvietnam, mit der das französische Kolonialregime in Indochina eine entscheidende Niederlage hinnehmen muss, wird in Saigon, im Süden, der amerikanische Beamte Alden Pyle tot aufgefunden. Der Engländer Thomas Fowler, ein desillusionierter, zynischer Korrespondent, der seit längerem über den Kolonialkrieg berichtet, kannte diesen unauffälligen "Stillen Amerikaner", der angeblich in Sachen Wirtschaftshilfe tätig war. Dieser Pyle hat ihm einmal das Leben gerettet, und er hat ihm die vietnamesische Geliebte Phoung mit einem Eheversprechen genommen. Dabei besteht für Fowler , je länger er den Amerikaner beobachtet, kein Zweifel: Mit Pyle kündigt sich die Zeit "nach den Franzosen" an, die "amerikanische Ära". Und er glaubt zu erkennen, welches entsetzliche Unheil Leute wie Pyle mit ihrem "Idealismus" heraufbeschwören. So entschließt er sich zum Handeln. Er gibt den Vietminh, den Untergrundkämpfern für die Unabhängigkeit Vietnams, einen Wink, wie sie Pyle in einen Hinterhalt locken und ausschalten können.
Die Gestalt fand seinerzeit ihr Vorbild in dem amerikanischen Oberst Edward Lansdale, der im Zweiten Weltkrieg beim CIA-Vorgänger OSS gedient und später auf den Philippinen geholfen hatte, eine kommunistisch geführte Rebellion niederzuschlagen. Als Hässlichen Amerikaner schilderten ihn William Lederer und Eugene Burdick in ihrem gleichnamigen Roman. Als "trügerisch milden" ehemaligen PR-Manager beschrieb ihn der Pulitzer-Preisträger Stanley Karnow in seiner Geschichte des Vietnam-Kriegs. "Er hielt sich immer im Hintergrund. Bei Lansdale klang alles einfach", notierte Karnow, "wenn er etwa in einem Counter-Insurgency-Kurs erklärte: Kommunistische Guerillas verstecken sich unter den Leuten. Wenn du die Leute auf deiner Seite hast, gibt es keinen Ort mehr, wo sich die Guerillas verstecken könnten. Ohne Versteck kannst du sie finden. Dann nagle sie fest und mach sie fertig."
1954, kurz vor der französischen Niederlage in Dien Bien Phu, war Lansdale nach Vietnam gekommen, um in Saigon - ohne Genehmigung des US-Kongresses - eine geheime Militärmission aufzubauen, "ein Dutzend amerikanische Soldaten und Geheimagenten, die auf schmutzige Tricks spezialisiert waren", schreibt Karnow. Um die Stimmung anzuheizen, verbreitete das Kommando Gerüchte, wonach chinesische Kommunisten Dörfer im Norden Vietnams niedergemetzelt und geplündert hätten. Lansdales Männer fälschten Viet-Minh-Dokumente, um Bauern zu erschrecken und heuerten Wahrsager an, die eine verhängnisvolle Zukunft prophezeiten, sollten Kommunisten an die Macht kommen. Sie verübten Anschläge, sabotierten das Genfer Indochina-Abkommen von 1954 und forderten eine Million katholischer Vietnamesen mit dem per Radio verbreiteten Ruf - "die Jungfrau Maria geht nach Süden" - zur Flucht aus dem Norden auf. Die getöteten Mitglieder dieses Kommandos sind die ersten auf der langen Liste gefallener Soldaten, die am Washingtoner Vietnam Memorial zu lesen ist.
Doch sogar Graham Greenes philosophisch milde Kritik an Pyles Machenschaften geht den Produzenten des Films zu weit. Der im Roman beinahe beklagenswerte Pyle verwandelt sich unter Phillip Noyce in einen Helden. Der Engländer Fowler sei die einzige vollständig erklärte Figur, gibt der Regisseur eine eher fadenscheinige Begründung für das Umschreiben der Erzählung. Die anderen Personen seien "zu blass und zu schwach". Einer seiner Produktionsassistenten hat eine plausiblere Erklärung: "Wir wollen vor allem auf dem US-Markt Erfolg haben", wenn der Streifen Weihnachten in die Kinos kommen soll. Und Amerika hat bekanntermaßen gerade jetzt einen unstillbaren Bedarf an Helden.
Greenes Pyle stirbt, weil Fowler einen Hinweis gibt, um die "Unschuld" eliminieren zu können. Der wahre Oberst Lansdale avancierte stattdessen zum General, übernahm einen Posten im Pentagon, ehe er Mitte der sechziger Jahre wieder als Chef eines besonderen "Search-and-Destroy-Kommandos" nach Saigon zurückkehrte - im Gefolge einen Assistenten, der seine Studien in Harvard mit summa cum laude absolviert hatte, sich später kategorisch gegen den Krieg in Vietnam wenden sollte und mit der Enthüllung der sogenannten Pentagon-Papiere Geschichte machte: Es war Daniel Ellsberg.
(*) Oberkommandierender der französischen Kolonialtruppen während der Schlacht um Dien Bien Phu.
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