Noch streiten Wissenschaft und Politik darüber, ob Frühwarnsysteme das Ausmaß der Flutkatastrophe in Südasien verringert hätten. Vieles spricht dafür, dass es möglich gewesen wäre, durch mehr Kommunikation zwischen den verschiedensten Beobachtungsstationen und staatlichen Behörden viele Küstenzonen Indiens, Sri Lankas und Thailands rechtzeitig zu alarmieren und Tausende vor der Flut in Sicherheit zu bringen.
Am 26. Dezember, gegen 15.00 Uhr Ortszeit, analysieren Stuart Weinstein und Andrew Hirshorn im Pacific Tsunami Warning Center auf Hawaii die Ausschläge, die eine Station auf den Cocos-Inseln (vor Westsumatra) auf ihren Monitoren anzeigt. Um 15.14 Uhr Ortszeit setzen sie ein "Tsunami Bulletin Nummer 001" an alle vergleichbaren Stationen im Pazifik ab: "Das Erdbeben der Stärke 8.0 ist außerhalb des Pazifik lokalisiert ... Keine zerstörerische Tsunami-Gefahr."
Zu dieser Zeit hat die Flutwelle bereits den indischen Luftwaffenstützpunkt auf Car Nicobar, einer kleinen Insel nordwestlich von Sumatra, erreicht. Während mehr als 100 Soldaten von den entfesselten Wassermassen ins Meer gespült werden, setzt der Funker einen Mayday-Ruf ab, der auf einem Flugplatz im indischen Madras empfangen und per Telefon an die dortige Luftwaffenbasis Tambaram weitergeleitet wird. Zwar schickt der Kommandeur sofort Transportmaschinen zu den Andaman-Inseln, unterlässt es aber, auch zivile Stellen zu benachrichtigen." Die Mission der indischen Luftwaffe ist es, Krieg zu führen oder - wie in derartigen Fällen - Hilfseinsätze zu fliegen, und nicht, Tsunamis vorherzusagen", begründet Geschwaderkommandeur Mahesh Upasani später sein Verhalten.
In Madras beobachtet auch der Meteorologe Chandrashekkhar Rao die wilden Ausschläge auf dem Seismographen und informiert seine Vorgesetzten in Delhi, die ein Tsunami-Warnsystem für den Indischen Ozean bis dahin aus Kostengründen stets abgelehnt haben - jetzt bleibt noch eine Stunde, bis die Welle auf Indiens Küste trifft.
"Versuchen Sie, schnell Schluss zu machen ..."
Im nordamerikanischen Geological Survey´s National Earthquake Center in Golden (Bundesstaat Colorado) korrigiert inzwischen der Geophysiker Don Blakeman die Stärke des Seebebens auf 8.5 (auf der Richterskala) und informiert das Weiße Haus, das State Department sowie mehrere Hilfsorganisationen über "ein starkes Seebeben im Indischen Ozean". Auf Hawaii setzt der Direktor des Warnzentrums, Charles McCreery, eine Stunde nach dem ersten das Tsunami Bulletin Nummer 002 ab: "In der Nähe des Epizentrums besteht die Möglichkeit eines Tsunami", heißt es gleich am Anfang.
Im Nationalen Meteorologischen Zentrum in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas, diskutiert zur gleichen Zeit der diensthabende Meteorologe Sarath Premalal mit seiner Crew, ob die Bevölkerung über die Radio- und Fernsehstationen des Landes gewarnt werden sollte. Solange es keine "härteren Informationen" gäbe, entscheiden sie, fühle man sich nicht legitimiert, einen Alarm auszulösen - währenddessen zerstört die Welle bereits den Küstenstreifen im Norden des Inselstaates.
In Madras beginnt Pater Maria gerade, die Messe zu lesen, als ihm ein Helfer zuflüstert: "Das Meer hat die Treppen zum Strand erreicht! Beten Sie für die Menschen und versuchen Sie, schnell Schluss zu machen." Der Priester eilt vor die Tür. Das Wasser ist wie durch ein Wunder vor dem Kirchenportal zum Stillstand gekommen. "Ich habe den Film Die Zehn Gebote gesehen", wird er 24 Stunden später sagen. "Das war nur Kino. Wir haben das nicht geglaubt, hier haben wir es gesehen."
"Schließlich zerbarst der Berg mit einem fürchterlichen Krachen ..."
Um diese Zeit gehen erste Berichte von Tod und Zerstörung am Indischen Ozean via Radio, Fernsehen und Internet um die Welt. Im Tsunami-Warnzentrum auf Hawaii versuchen Charles McCreery und seine Kollegen verzweifelt, nun wenigstens die Behörden jener Länder Ostafrikas zu warnen, deren Küsten als nächste von der Woge überrollt werden könnten: Madagaskar, Mauritius, Somalia, Kenia. Und tatsächlich, endlich holt der Mensch die Welle ein. In Kenia, wo die Regierung sofort die Schließung aller Strände und Evakuierung aller Hotels anordnet, ist nur ein Menschenleben zu beklagen.
Zwei Stunden nach dem "Tsunami Bulletin Nummer 001" wissen die Experten in Hawaii ebenso wie die Meteorologen in Colorado, dass Südasien die schlimmste Naturkatastrophe seit Menschengedenken heimgesucht hat und mehr Opfer fordern wird, als die Flutwelle nach dem legendären Ausbruch des Krakatoa, die im August 1883 mit Wellenbergen von bis zu 30 Metern Höhe über den Ozean rast (36.000 Tote). Dieser Tsunami des Jahres 2004 wird bestenfalls mit jener Mega-Eruption des Krakatoa in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts vergleichbar sein, die im chinesischen Nan shi ("Geschichte der südlichen Dynastien") erwähnt und in der indonesischen Chronik "Pustaka Raja Purwa" - dem "Buch der alten Könige" - beschrieben ist: "Es gab ein heftiges Erzittern der Erde, völlige Dunkelheit, Donner und Blitz. Schließlich zerbarst der Berg mit einem fürchterlichen Krachen in zwei Teile und versank in den Tiefen der Erde. Das Land wurde zu Meer ... als das Wasser zurückging, wurde offenbar, dass die Insel Java fortan zweigeteilt und die Insel Sumatra entstanden war."
Noch einmal korrigieren die Seismologen ihre Angabe zur Stärke des Seebebens, diesmal auf 9.0 - hätten sie wissen müssen, was da auf Südasien zutrieb? "Wie kommt man darüber hinweg", fragt Stuart Weinstein in seinem mit Computern voll gestopften Büro auf Hawaii. Das Bild einer Frau in Banda Aceh, die in Schlamm und Trümmern nach ihren elf Kindern sucht, verfolgt ihn: "Das war wie ein Tritt in den Magen."
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