Der Deutsche ist der Dumme

MEDIENTAGEBUCH Silicon Valley, kurz nach Mitternacht. In den Villen feiert man protzige Parties. Irgendjemand hat immer Grund. Denn jeden Tag werden 63 Menschen an ...

Silicon Valley, kurz nach Mitternacht. In den Villen feiert man protzige Parties. Irgendjemand hat immer Grund. Denn jeden Tag werden 63 Menschen an dieser sunny side der Welt zu Millionären. Jede erste Million, so unsere Vermutung, ergibt eine Party. Draußen fährt der Linienbus Nummer 22 die Hauptstraße hinunter, vorbei an den Villen, die Beleuchtung gedimmt. Seine Ladung: Lehrer, Angestellte, Verkäufer, die für drei Dollar die Nacht in Bussesseln gekrümmt übernachten: der gewöhnliche Fahrschein in Silicon Valley erlaubt ihnen das. Die Schlagzeile: Immer mehr Menschen werden an der reichsten Küste der Welt obdachlos, auch wenn sie einen oder sogar zwei Jobs haben.

In einer Welt, wo Millionäre aus Aktiengewinn und Mitnahmen gezüchtet werden wie die Pilze, ist wenig Platz für Menschen, die nicht in der Lage sind, für eine Wohnung 5.000 Mark monatlich hinzublättern. Dort, wo Mediengewinnler leben, sind 100.000 Mark Jahreseinkommen zu wenig. So ist der Plebs zur nächtlichen Mobilität verdammt, wechselt seine Jobs wie die Hemden, seinen Arbeitsplatz im Wochenturnus, während zeitgleich die deutschen Medien gebetsmühlenartig über die »mangelnde Mobilität« der Deutschen klagen und in den Tagesthemen einstimmig mit dem CNN-Reporter aus Berlin heulen: Amerika, du hast es besser.

Und plötzlich stehen sie vor der Tür, angebliche Heerscharen von Indern, Medien- ingenieure, Internet-Programmierer, und zeigen am Flughafen Frankfurt cool ihre Green-Card vor. Als gäbe es nichts Schöneres, in Deutschland zu leben, wo eine Wohnung ein Zehntel dessen kostet, was man in Silicon Valley hinblättern muss, und mit dem »Pennen« im Nachtbus spätestens an der Endhaltestelle Schluss ist.

Da werden nun folgende Bilder eingeblendet: Bettelnde Inder neben den hilflos sich der Armut erwehrenden Deutschen in Kalkutta. Seit Günter Grass ist das ein stehendes Medienklischee. Es gibt auch ausgefeiltere Klischees aus der ersten Jahrhunderthälfte. Indiens berühmter Mathematiker Srinivasa Ramanujan aus Madras war der indische Vorvater der Informationstechnologie, ein Genie. Der englische Mathematiker Godfrey Hardy holte ihn 1914 nach Cambridge - obwohl dem strenggläubigen Brahmanen eine Seereise verboten war. In Cambridge fand er enorme Anerkennung, konnte sich aber den europäischen Ernährungsgewohnheiten nicht anpassen. Tuberkulose und Selbstmordversuch waren die Folgen, 1920 starb er in Madras. Warum wird diese Geschichte heute ausgegraben? Weil der Inder eigentlich da bleiben will, wo er ist. Immerhin rund 5.000 Jahre alte indische Kultur, das schiere Alter und der unschätzbare Reichtum der Radjas machen das Bild glaubwürdig. Auch haben wir diese Ehrfurcht vor uralter, gelebter Religion, die angeblich um den Schlüssel aller Weisheit weiß und in den 1970ern Heerscharen von Deutschen in ein Land trieb, in dem sie ihre eigene wundersame Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellten: Sie hungerten, lernten Heilkünste kennen, die sie krank machten, und spendeten Gelder, die ihre Gurus in britischen Nobelkarossen anlegten. Wenigstens diese Deutschen sind heute in der Lage zu verstehen, warum Indien nicht irgendein Dritte-Welt-Land ist, sondern das größte englischsprechende Volk der Welt. Hier fließt das Weltwissen unmittelbar, ohne Zuhilfenahme von Wörterbüchern, via Internet und Lehrern aus den USA und England in die Köpfe eines Volkes, das - und nur hierin ähnelt Indien dem Entwicklungsland Deutschland - nebst Ägypten über die schwerfälligste Bürokratie der Welt verfügt (ein britisches Erbe).

Das schönste Bild aber, das von diesem angeblich so fleißigen Volk des Ex-Commonwealth gezeichnet wird, ist nicht seine Anpassungsfähigkeit oder seine sehr viel ältere mathematische Tradition, sondern dieses: Für rund 3.000 Mark arbeiten Top-Programmierer in Bangalore, dem indischen Silicon Valley, und das bei völligem Fehlen jenes besonderen Reizes, den die Deutschen seit Anbeginn mit den Medien assoziieren: nämlich kreativ zu sein. Nein, angeblich programmieren sie »nur«. Sie machen nur die uninteressante Arbeit, die dem Deutschen nicht liegt: das sture Schreiben von Befehlszeilen. So wird uns der dankbar dem Hunger entkommene, hochausgebildete Angepasste vorgeführt, der auch jederzeit bereit sei, die Koffer zu packen, und - wie bei der ARD als Statement vorgeführt - vor allem reisefertig bleibt: Jeder Inder, heißt es da, fürchte um die europäischen Essgewohnheiten und fühle sich bei indischem Curry sehr viel wohler. Da ist doch eine wundersame Inszenierung am Werk. Man spielt ausgerechnet mit dem Mythos der Mobilität, der dem reiselustigen Deutschen so nahe liegt: »Das Schönste am Urlaub ist die Heimkehr«. Schon wird uns der heimwehgeplagte Inder gezeigt, der den Deutschen jene Arbeitskraft zur Verfügung stellt, die ihm einst die Türken Anfang der 1960er Jahre versprachen. »Nach Müllabfuhr ich Sehnsucht nach Izmir.« Der Inder soll nun der Türke von gestern werden. Das hat Nachgeschmack. Damals war der Deutsche der Dumme, weil er sich im Krieg über den Haufen schießen ließ und darum Gastarbeiter brauchte. Heute ist er der Dumme, nicht Betrogene, sondern der buchstäblich Dumme, weil man ihm die Ausbildung des Inders vorenthalten habe. Der Deutsche spielt nun Aktienlotto, um sich selbst einen Porsche zu schenken, nicht seiner Sekretärin, wie in Silicon Valley üblich, während der Inder büffelt, um seine Green-Card zu bekommen. Weiser scheint mir der Inder.

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