Mitte Februar war es saukalt. Die Temperatur kam nicht über minus vier Grad hinaus. Alles war gefroren, ich inklusive. Manchmal hatte es sogar minus 20 Grad. Das war schwer für mich, denn ich kannte die kalte Welt bisher nur aus Osaka, dort hat es im Winter immer ein oder null Grad. Die Erfahrung von minus vier oder minus 20 Grad habe ich erst auf Hokkaido gemacht. Automotoren bewegten sich nicht mehr, und auch mein Körper kam nicht mehr in Schwung.
Aber am 26. Februar stieg die Temperatur auf 15 Grad, so kam endlich der Frühling über mich. Der Frühling auf Hokkaido. Keine gefrorene Nase. Kein Schnee. Kein Mantel. Wie glücklich ich bin! Die Sonne scheint auf meinen ganzen Körper.
Unlängst kaufte ich ein Buch über Alte Japanische Frauengeschichten von Sugoro Yamamoto. Er ist schon tot. Aber seine Bücher gibt es noch zu kaufen. Eines Tages werde ich dieses Buch ins Deutsche übersetzen und es dir geben. Du wirst tief bewegt sein, weil du Japan schon ein wenig kennst und auch die japanischen Frauen, die Frauen aber viel zu wenig. Herr Yamamoto erklärt das Innenleben der Frau und die wichtigsten Dinge über deren Herz, damit Männer sich selbst besser verstehen, als wären sie an Stelle einer Frau. Wart noch ein bisschen, bis mein Deutsch besser geworden ist.
Diese Geschichten habe ich aus der Zeitung:
1
Ein Mann, der ganz in meiner Nähe wohnte, wurde jeden Morgen, wenn er das Haus verließ, von einem Hund angebellt. Der Hund verbellte nie einen anderen Nachbarn, nur den einen, den er nicht mochte. Jeden Tag, wenn der Mann zur Arbeit ging, bellte der Hund, was den Mann ärgerte. Eines Nachts fing er den Hund ein und strangulierte ihn mit einer Drahtschlinge. Der Besitzer des Hundes rätselte, wohin der Hund gekommen ist. Auch die Frau des Mannes, der den Hund stranguliert hatte, wusste nicht, was vorgefallen war. Niemand hatte etwas mitbekommen. Von nun an konnte der Mann am Morgen zur Arbeit gehen, ohne angebellt zu werden. Das gefiel ihm. Eines Tages fragte ihn ein Arbeitskollege, was aus dem bellenden Hund geworden sei. Der Mann sagte: "Ich habe ihn gegrillt." Ein anderer Arbeitskollege, der das Gespräch mitgehört hatte, ging zur Polizei, und der Hundemörder wurde festgenommen. Das ist eine sehr lustige Neuigkeit, finde ich, weil man daraus ersehen kann, dass Japan kein zivilisiertes Land mehr ist. Der Mann sagte zur Polizei: "Der Geschmack der Hinterbacken ist hervorragend."2
Ein Kanadier transportierte Kokain nach Japan. Er brachte 40 Kilogramm und ging durch den Zoll mit wackligen Knien, weil er das Gewicht kaum tragen konnte. So wurde er von den Zöllnern geschnappt. Dieser Kanadier kommt mir vor wie ein Musterbeispiel an Dummheit.3
Kennst du die Tokaido Linie? Sie war wochenlang unpünktlich wegen Schnee und Eis. Wenn Schnee fällt, bricht der Eisenbahnverkehr komplett zusammen. Jeder weiß das. In der Zeitung stand: "Die Wetterstation prognostiziert, sowie die Tokaido Linie wieder pünktlich fährt, ist der Frühling eingetroffen."4
Einbrecher legten Feuer in einem Haus. Der Mann und die Frau konnten sich retten, aber deren einjähriges Kind blieb im Haus zurück. Das machte alle sehr unglücklich. Nachdem das Haus komplett heruntergebrannt war, hörten sie das Baby schreien. Es war ins Badezimmer gekrochen, wo es von herabstürzenden Teilen zugedeckt wurde. Glückliches Kind. Die Eltern weinten vor Glück. Die Schaulustigen und die Feuerwehrleute applaudierten. Ein Journalist schrieb: "Ich bin glücklich. Sowie das Kind erwachsen ist, soll es auf die Feuerwehrakademie gehen und dort unterrichten, wie man sich im Brandfall verhält."5
Ein vier Jahre alter Bub reiste von Nagoya nach Hokkaido. Das kam so: Eines Tages nahmen ihn seine Eltern mit in den Stadtpark. Sie ließen ihn für einen Moment aus den Augen, schon war er verschwunden. Die Eltern waren überrascht und ratlos, sie suchten ihn, konnten ihn aber nicht finden. Nach einiger Zeit alarmierten sie die Polizei. Beamte suchten nach dem Kind, aber es gab keine Spur. Man dachte an Entführung, denn die Eltern hatten Geld. Nach 45 Stunden wurde der Junge am Sapporo-Bahnhof von Polizisten aufgegriffen. Der Junge gab einem Journalisten ein Interview und sagte: "Ich habe den Bus zum Flughafen genommen und bin mit einem Jet geflogen. Der Himmel ist blau und die Wolken sind wunderschön. Dann nahm ich einen Zug und schlief dort. Als ich wieder aufwachte, war ich hungrig." "Weißt du, wo du jetzt bist?" fragte der Journalist. "Auf Hokkaido", sagte der Junge.6
Ein Mann wollte Sushi aus Tokyo. Also versteckte er sich im Radkasten eines Flugzeugs. Nach zwei Stunden landete das Flugzeug, der Mann lebte noch und wurde festgenommen. Der Mann sagte, ich will ins Guiness Buch der Weltrekorde. Aber statt dessen kam er in die Irrenanstalt.7
Ein junges Mädchen und ihre Mutter, eine Witwe, luden den Verlobten der Tochter zum Abendessen ein. Als sie feststellten, dass sie keinen Wein hatten, ging die Tochter auf den Markt, um welchen zu kaufen. Während die Tochter unterwegs war, verführte die Mutter den Verlobten und hatte Sex mit ihm. Als die junge Frau zurückkam, merkte sie, was geschehen war, machte den Wein auf und sagte: "Okay, Mutter, ich überlasse dir meinen Verlobten. Ich finde einen anderen."Ist das nicht eine verrückte Familie? Ja, das ich eine wahre Neuigkeit aus Hokkaido.
8
Eine andere Neuigkeit. Ein Paar flog in den Flitterwochen nach Hong Kong. Sie nahmen ein Taxi. Der frischgebackene Ehemann veranlasste den Taxifahrer zum Anhalten, weil er Zigaretten kaufen wollte. Er sprang aus dem Taxi zu einem Automaten, da fuhr das Taxi davon. Der Mann ging zur nächsten Polizeistation, aber dort wurde seine Aussage nicht aufgenommen, weil man in dem Vorfall kein Verbrechen sehen konnte. So fuhr der Mann allein nach Japan zurück. Mittlerweile ist mehr als ein Jahr vergangen, und niemand weiß, wo die Ehefrau des Mannes geblieben ist. In der Zeitung vermuten sie, die Frau lebe im Untergrund als Prostituierte oder etwas Ähnliches.9
Das ist nicht aus der Zeitung, mein Bruder hat es mir erzählt. Ein Freund von ihm, der im selben Büro arbeitet, hat geheiratet. Sie flogen in den Flitterwochen in die U.S.A., stiegen in einem Hotel in Los Angeles ab, aber weil sie kein Wort Englisch sprachen, nicht wussten, wie man einen Bus nimmt oder ein Restaurant besucht, kauften sie ein Brot am Markt und gingen zurück ins Hotel, wo sie das Brot aßen. Das ist alles. Sie verbrachten die ganze Woche zwischen Brotkaufen und Hotel. Kannst du dir das vorstellen? In den Flitterwochen. Nachdem der Freund meines Bruders zurückgekommen war, erzählte er jedem: "Wir waren in Amerika!"10
Das ist, was mir meine Schwester erzählt hat: "Eine Bekannte von mir heiratete, sie fuhren in den Flitterwochen nach Hawaii. Sie kamen zurück, und nach neun Monaten brachte die Frau ein Kind auf die Welt, es war farbig. Alle waren überrascht. Ihr Mann fragte sie, wie das komme, da fiel es ihr wieder ein. Als sie am Waikiki-Beach waren, musste sie auf die Toilette und wurde dort von einem farbigen Mann vergewaltigt. Sie hielt es geheim. Jetzt haben sie das farbige Kind weggeben, und sind noch immer zusammen. Keine Scheidung. Aber sie sind sehr traurige Menschen."Das sagt meine Schwester.
PS:
Es tut mir sehr leid, dass ich dir auch diesmal kein japanisches Schwert schicken kann. Aber ich habe noch keine geeignete Holzschachtel gefunden. Ich werde mir demnächst ein Brett kaufen, es zurechtsägen und eine spezielle Schwert-Kiste bauen. Der Mann auf der Post sagte: "Wenn dein Paket zusammenbricht und das Schwert verbogen wird, werden wir dir den Schaden nicht ersetzen ..." Davor habe ich Angst, weißt du. Jetzt denke ich darüber nach, ob nicht vielleicht auch ich heiraten soll. Dann könnte ich endlich nach Europa reisen, was ich nur immer verspreche, und dir das Schwert persönlich bringen. Vergib mir, dass du noch ein wenig warten musst.
Wenn du mir ein Foto schicken willst, schick mir eins von meinem Lieblingsplatz, dem Machu-Pichu. Ok?
Ich weiß, es gibt im Leben steile Berge und freundlicher geneigte Landschaften. Aber ich klettere gerade auf einen der steilen Berge. Vielleicht kannst du meine Situation verstehen. Ja. Ich rede nur so ... Wenn ich erst einmal oben auf dem Berg bin, werde ich auch auf ebenen Feldern gehen können. Daran glaube ich.
Arno Geiger, geboren 1968 in Bregenz, lebt in Wien. Zuletzt erschien der Roman Es geht uns gut, Hanser 2005.
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