Endlich bewegte sich etwas hinter den kahlen Fenstern. Eine Frau zog ein. Er hatte sich seinen Platz am Fenster eingerichtet, den Sessel dicht herangerückt, um seine Füße an der Heizung zu wärmen. Die andere Wohnung lag über den Hof und so nahe, dass er manchmal das Gefühl hatte, er bräuchte nur den Arm auszustrecken.
Martin Schmoller, Buchhalter, ist Mitte Fünfzig und bis heute unverheiratet. Seine Schultern sind heruntergezogen, nicht von der Last, die er tragen musste, sondern eher von dem, was fehlte.
Nun war diese Frau dort eingezogen. Sie war hübsch. Sie schien auch allein zu sein und sie war jünger als er. Es hatte nicht viele Frauen in seinem Leben gegeben. Mit Zahlen konnte er besser umgehen. Heute aber war ihm im Büro ein Fehler unterlaufen. Ihm! Er hatte an die Frau gedacht. Er hatte Sehnsucht in den Händen gespürt und die Zahlen waren ihm verrutscht ...
So saß er wieder in seinem Sessel, die Hände im Schoß, und wenn die Frau auftauchte, beugte er sich leicht nach vorn.
Eines Abends fiel es ihm auf. Die Frau zog die Vorhänge zu. Keine schweren Vorhänge, eher dünne Übergardinen. Sie erinnerten ihn an seine Kindheit. Die Vorhänge in seinem Zimmer waren orange gewesen und er hatte sie gehasst. Die der Frau waren beige und zeichneten das, was dahinter geschah, deutlicher ab, als dass sie es verhüllten. Ein Schattenspiel. Vorstellung kostenlos.
Ihr Zimmer war plötzlich in rötliches Licht getaucht und er sah, dass sie Besuch empfing. Männerbesuch. Mehrere. Nacheinander.
Manchmal umarmten sie sich hinter dem beigen Vorhang und er spürte diesen Schmerz über dem Brustbein, fühlte sich betrogen und dachte, "ich habe kein Recht dazu". Und doch blieb er sitzen, bis irgendwann das Licht gegenüber erlosch. Was er sah, beunruhigte ihn, brachte seine Gedanken in Aufruhr, die es gewohnt waren, geradlinig zu laufen.
Sein Ehrgeiz war entfacht, er wollte herausfinden, was es mit den Besuchen auf sich hatte. Er nahm sich einen freien Tag und in der Firma fragten sie, ob er sich nicht wohl fühle.
Gleich nach dem Frühstück nahm er in seinem Sessel Platz. Schon um zehn Uhr empfing sie den ersten Besucher! Was genau sie taten, sah er zwar nicht, aber das konnte man sich ja denken. Dieses mysteriöse Licht und die zugezogenen Vorhänge waren doch wohl eindeutig. Musste er es nicht dem Vermieter sagen? "Vielleicht ist sie ja auch so eine Andere", dachte er, "die mehr redet mit den Männern oder ihnen Schmerz zufügt, weil die das so wollen." Er hatte das mal im Fernsehen gesehen.
So eine war sie wohl, denn oft sah er sie wild gestikulieren und ein Schreien und Stöhnen hatte er auch schon gehört.
Ja, er würde die Frau melden müssen.
Es war Dienstag, sein Vermieter hatte ab vierzehn Uhr Sprechstunde.
Er wollte der Erste sein. Doch zehn Minuten nach Zwei stand er noch immer unschlüssig an seinem Fenster.
Als er schließlich auf die Straße trat, sah er sie. Sie war gerade dabei, etwas neben dem Hauseingang anzubringen. Schmoller blieb stehen, sah das Schild, doch bevor er lesen konnte, was darauf stand, sprach die Frau ihn an: "Interessiert Sie das? Kommen Sie doch mal vorbei, die erste Stunde ist gratis."
"Ich?" Schmoller räusperte sich und eilte die Straße hinunter.
Die Frau zog den Jackenärmel über den Handrücken und polierte das blanke Messing. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte zufrieden.
Martin Schmoller aber wartete mit pochendem Herzen ein paar Eingänge weiter in einem Torbogen. Als die Frau wieder verschwunden war, eilte er in seine Wohnung. Dort ließ er sich noch im Mantel in den Sessel fallen, sprang entschlossen wieder auf und rückte ihn vom Fenster weg. Er nahm ein Buch, blätterte darin, doch seine Augen wurden immer wieder von der gewohnten Blickrichtung angezogen. Er schwitzte.
Er legte das Buch auf den Tisch und lief im Zimmer auf und ab. Er schob den Sessel erneut vor das Fenster. Doch es war nicht mehr dasselbe. In diesem Moment erschien sie am Fenster. Allein. Und sie hob die Hand, als wollte sie ihn grüßen. Er zuckte zurück. Er hatte doch immer gedacht, sie könne ihn nicht sehen.
Hastig zog er seine Vorhänge zu. Ein paar Clips rissen ab. Er ging in den Flur, schlüpfte in seine Straßenschuhe, war schon an der Tür, als ihm der Mantel einfiel, der noch über dem Sessel lag. Er zog die Schuhe wieder aus, um den Teppich nicht zu beschmutzen, holte den Mantel, war mit dem einen Arm schon drin, als es klingelte. Er starrte auf das Telefon, obwohl er doch wusste, dass es die Tür war. Es klingelte ein zweites Mal. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, stolperte über seine Schuhe, ehe er langsam die Wohnungstür öffnete. "Ja?"
Ein junger Mann stand vor ihm. Ob er ein bisschen Zucker hätte. "Ich habe unverhofft Besuch bekommen, bin eigentlich noch am Einrichten. Ich bin der neue Nachbar." Er hielt ihm die Hand hin.
Martin Schmoller aber stierte nur und verstand nichts.
Nein, habe er nicht und außerdem müsse er dringend weg, und schloss vor der Nase des jungen Mannes die Tür. Sein Herz raste. Hatte er wirklich erwartet, sie würde vor der Tür stehen?
"Ich gehe jetzt zum Vermieter!" Auf der Treppe stellt er fest, dass er noch immer keine Schuhe trug. "Das ist zuviel für mich".
Vor dem Haus wäre er beinahe mit der Frau zusammengestoßen. Sie stand einfach da und lächelte ihn an. Eine Locke hatte sich in ihr Gesicht verirrt. "Wie schön sie ist", dachte er.
Sie gab ihm eines der zusammengefalteten Papiere, die sie in der Hand hielt: "Vorhin waren Sie so schnell verschwunden. Kommen Sie doch auch mal rüber."
"Ich?" Ihm lief der Schweiß den Rücken runter. "In meinem Alter, ich meine, ich kann doch nicht, Sie können doch nicht, wir müssen ..."
"Was heißt hier in Ihrem Alter? Ich hätte gern mal was Reiferes dabei. Aber jetzt muss ich, vielleicht bis bald?"
Sie drehte sich noch einmal um und rief ihm zu: "Manchmal lohnt es sich, etwas Neues auszuprobieren!"
Martin Schmoller blickte ihr nach, unfähig, etwas zu erwidern oder sich zu bewegen. Sein Hemd klebte ihm auf dem Rücken. Er wischte sich über die Stirn, zweifelnd, ob er diese Begegnung eben wirklich erlebt hatte. In der Hand hielt er noch immer das gelbe Stück Papier. Sie hatte ihn wirklich gefragt, ob er zu ihr kommen wolle. Nein! Angewidert warf er es auf den Boden, drehte sich um und wollte, ja wohin wollte er?
Schließlich siegte doch seine Neugierde und er hob das Blatt auf. Er wagte einen Blick und die schwarzen Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen:
"Ausgebildete Schauspielerin gibt Einzelunterricht in Stimmbildung und Ausdruck. Szenenstudium auch in professioneller Ausleuchtung möglich. Gern auch Anfänger."
Astrid Reimann wurde 1961 in Berlin geboren. Sie schreibt Erzählungen, Lyrik und Kindergeschichten. Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Zeitschriften.
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