Brechendes Eis vor Archangelsk

Russland Am Weißen Meer kommt das Frühjahr mit dem Hochwasser der Dwina und dem Gedenken an den "Tag des Sieges" vor 67 Jahren

Luba Prigonowa sieht aus wie der Wolf, der sich als Großmutter verkleidet hat. Bleich und mit geschlossenen Augen liegt sie reglos im Bett. Um den Kopf hat sie ein weißes Tuch gewickelt, ihre Nase ragt spitz nach oben, ihre Hände sind über der Bettdecke gefaltet.

„Kommen Sie“, sagt ihre Freundin Tanja resolut und stellt einen Hocker für mich neben das Bett. Die Medikamente auf dem Nachttisch lassen auf eine Lebensmittelvergiftung schließen. Tanja muss stundenlang geputzt haben. Der Fußboden in der Küche glänzt, das Geschirr ist abgewaschen, auf dem Herd kocht eine Hühnersuppe. Der Eimer mit den aufgetauten Fischen, die wir gestern noch geschuppt haben, ist verschwunden. „Wissen Sie“, sagt Luba Prigonowa plötzlich ohne weitere Einleitung und sieht schon etwas lebendiger aus. „Wissen Sie, damals hatten wir ja noch die großen Raddampfer und die Raketas, damit sind wir zu den Inseln gefahren. Heute sind diese Schiffe alle nach Griechenland verkauft worden. Die waren einfach zu teuer für Archangelsk.“

Sie sieht sich eine Postkarte von den Solovki-Inseln aus fernen Zeiten an, um dann vorzurechnen, was ein solches Fährschiff an Unterhalt kostet. Luba kennt sich aus, sie war vor ihrer Pensionierung Wirtschaftsdolmetscherin für Englisch und Deutsch und hat für die Schiffsindustrie im nordrussischen Archangelsk am Weißen Meer gearbeitet. Aufstehen könne sie nicht, bedauert Luba, weil ihr dann schwarz vor Augen werde. Das Feuer knackt im riesigen Lehmofen, Tanja und ich hocken am Tisch, wir können durch die Schlafzimmertür Luba in ihrem Bett sehen. Morgen wird alles besser sein, ist Tanja überzeugt und zwingt mir noch einen Teller Hühnersuppe auf, ehe ich mich verabschieden darf.

Ich lebe für einige Wochen auf der kleinen Insel Kego im Delta des Flusses Dwina, um den Wechsel der Jahreszeiten in dieser Gegend zu erleben und zum Gedenken an das Kriegsende vor 67 Jahren in dem Land zu sein, das unter diesem Krieg am meisten gelitten hat. Das 360.000 Einwohner zählende Archangelsk liegt in zwei Kilometer Entfernung auf dem Festland. Der Ort meiner Wahl heißt Kegostrow und gehört als Stadtteil zu Archangelsk.

Auf der Insel gibt es fast tundraartig weite Flächen mit Gras und geduckten Büschen. An einer kilometerlangen Sandpiste stehen bunte Holzhäuser, einige Läden, eine Post, eine Schule, eine Arztpraxis, eine Apotheke und ein Friedhof. Kegostrow gilt in Archangelsk als üble Adresse. Freilich nur unter eingefleischten Stadtleuten. Die Inselbewohner genießen ihre Freiheiten, die Ruhe und die Abwesenheit der Miliz.

Die Dwina verzweigt sich hier, fließt um einige Inseln und Sandbänke herum und landet schließlich im Weißen Meer. Mitte April ist der Fluss noch mit dickem Eis bedeckt, das durch die Sonne langsam auftaut und Risse bekommt. Wie schon den ganzen Winter über gibt es auch jetzt nur die Möglichkeit, zu Fuß und übers Eis Archangelsk zu erreichen. Die Eisbrecher schaffen es noch nicht, die Fahrrinnen für die Inselfähren frei zu halten. Für ein erstes Stück über den gefronenen Fluss kann man ein Taxi buchen. Auch bieten einige Männer aus dem Dorf mit ihren Privatautos Fahrdienste an. Doch werden die Spurrinnen durch das Eis mit jedem Frühlingstag tiefer, so dass die Fahrer mit Vollgas durch den Schneematsch rasen und riesige Fontänen hinter sich herziehen. Luba findet, diese Leute seien ehrlose Halsabschneider. Sie würden mehr Geld nehmen, als normalerweise eine Fahrkarte für die Fähre zur Stadt kostet.

Mit Vollgas zur Stadt

Ich muss in die Stadtbibliothek von Archangelsk und ziehe meine Gummistiefel an. Wie alle anderen Eiswanderer habe ich eine Plastiktüte mit sauber geputzten Schuhen dabei. In Gummistiefeln durch Archangelsk laufen? Tiefer kann man dort kaum sinken. Fußgänger, die sich auf dem Eis begegnen, halten kurz an und zeigen mit der Hand an ihrem Hosenbein, wie tief der Eismatsch schon ist. Sie rufen sich aufmunternde Worte zu, lachen und machen Witze. Ein großer gelber Hund rennt mit fliegenden Ohren vorbei und versucht, durch große Sprünge den Pfützen auszuweichen.

In der Mitte des Weges steht eine Bretterbude mit qualmendem Schornstein und Toilettenhäuschen. Hier bewachen Wärter eine Rinne im Eis, die ein Eisbrecher zweimal am Tag vom Hafen zum Weißen Meer aufbricht. Sie bauen jedes Mal, wenn das Schiff vorbei ist, eine schmale Brücke aus Brettern wieder auf. Der Eisbrecher hinterlässt eine Spur aus fußballgroßen Eiskugeln, die sofort wieder zu pittoresken Haufen zusammenfrieren.

Am Ufer in Archangelsk stehen Schaulustige und sehen sich mit wohligem Grusel die Eiswanderer an – „Russki extrem“ auf der Dwina. Ansonsten wird die Stadt bereits für den 9. Mai, den „Tag des Sieges über Hitler-Deutschland“, auf Hochglanz gebracht. Die Promenade wird ausgebessert, eine Frau streicht mit weißer Farbe Alleebäume an. Sie singt auf Deutsch: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.“ „Kann ich noch aus der Schule“, sagt sie und lacht über mein Staunen.

Ein paar Tage später bin ich zusammen mit Luba bei Lydia Dimitrowna eingeladen. Beide sind seit vielen Jahren befreundet. Wir wollen feiern, dass jetzt das Eis aufbricht, die Schiffe bald wieder fahren und der Frühling kommt. Beide Frauen sind Rentnerinnen, es fehle ihnen an nichts. Hätten sie doch, was wirklich wichtig sei im Leben: Holz, Kartoffeln und Freunde. „Wir haben alles und alles genug“, lächelt Luba und lässt sich von Lydia Dimitrowna Tee nachschenken, den sie genüsslich aus der Untertasse trinkt.

Ich wollte Kaffee aus Deutschland beisteuern. Aber das kommt nicht gut an. „Wir haben eigenen Kaffee“, sagt Lydia Dimitrowna und knallt eine Dose Nescafé auf den Tisch. Sie ist 85 Jahre, fast blind und lebt allein in ihrem großen Blockhaus. Sie schimpft gern, spült ihre Wäsche im Fluss und geht einmal in der Woche in die Banja. Wenn sie den Gasherd anzündet, schleift sie mit dem Pulloverärmel durch die Flamme und schmeißt das noch brennende Streichholz in Richtung Holzstapel vor dem Ofen. Obwohl sie manchmal etwas taumelt und sehr zierlich ist, kann sie mit zwei vollen Wassereimern eine Leiter hochklettern und den Wassertank über dem Waschbecken wieder auffüllen.

Es ist vorbei

Lydia Dimitrowna zeigt mir ihre Orden, die sie am Tag des Sieges tragen will. Das sei sie sich und der Erinnerung schuldig, murmelt sie noch, während Luba erzählt, dass letzte Nacht der Fluss ein Opfer gefordert habe. Ein Mann sei ertrunken. „Das ist für alle anderen auf der Insel günstig, weil die Dwina pro Jahr nur ein Opfer braucht und dann Ruhe gibt.“ In den Fernsehnachrichten wird gezeigt, dass Jagdflieger die Eisbarrieren am Weißen Meer mit Munition beschießen, um den Weg für die abtreibenden Eisschollen frei zu machen.

Ich gehe am Uferweg nach Hause. In der Flussmitte steckt seit zwei Tagen ein halb eingesunkener Bus im Eis. Die Fahrgäste konnten sich retten. Ein Jeep fährt in die Nähe des gestrandeten Fahrzeugs und sackt bis zu den Fenstern ein. Der Fahrer klettert durch die Beifahrertür auf das Eis und wagt es nicht, an Land zu kommen. Einige Männer gehen ihm entgegen und nehmen ihn mit ans Ufer zurück.

Abends beginnt die Rettungsaktion für Bus und Jeep. Aber vorher stärken sich die Männer noch mit Brot, Wurst und Wodka. Sie lassen sich Zeit. Zwei werden ausgewählt, über die Schollen zum Bus zu gehen und ein Seil an die Achse zu binden. Das gelingt auch. Dann kommt ein Trecker und zieht vom Land aus am Stahlseil. Alle Zuschauer bringen sich hinter einem Auto in Deckung. „Achtung, die Trosse“, rufen sie und fordern mich auf, hinter den Wagen zu gehen. Das Tau reißt mit einem dumpfen Knall, und alles beginnt von vorn.

Als mehrere Versuche gescheitert sind, holen die Männer eine Seilwinde und bewegen den Bus Zentimeter für Zentimeter nach oben. Ein Luftkissenboot kommt aus Archangelsk herüber gedonnert und ein Fotograf der Regionalzeitung schießt Bilder vom schief stehenden Bus. Ein älterer Mann geht dem Boot entgegen, dreht sich um, zieht seine Hose runter und bückt sich. Großer Jubel am Ufer. Am nächsten Morgen stehen beide Fahrzeuge wieder an Land, aber das Taxigeschäft wird jetzt eingestellt.

Meine Nachbarin kommt zu Besuch. Sie hat von meiner Vermieterin, die bis zum völligen Ende des Winters in der Nähe von Moskau lebt, den Auftrag, mich ein wenig zu unterstützen oder zu bewachen, das weiß ich nicht so genau. Sie ist schockiert, weil ich einen Tortenheber zum Umdrehen für meine Bratkartoffeln benutze. Ich bringe das schnell in Ordnung und lade sie zum Essen ein.

Dann gehen wir in ihre Wohnung, sie war einst Musiklehrerin und will mir auf ihrem schwarzen Flügel etwas vorspielen. Ich kenne einige Melodien und summe mit. Dann singt sie voller Inbrunst ein Lied, in dem sehr oft das Wort „Pobedy“ (Sieg) vorkommt, der Refrain feiert stets von Neuem den Sieg der Roten Armee Anfang Mai 1945 über Deutschland. Ich fühle mich merkwürdig und will nicht mehr mitsummen.

Und dann ist es soweit. Anfang Mai kommt das Frühjahrshochwasser. Luba hatte mich gewarnt. Die Umgebung meines Hauses werde garantiert unter Wasser stehen. Also habe ich Trinkwasser, Holz sowie Lebensmitteln auf Vorrat gekauft und beobachtet, wie sich die Regale im Dorfladen leeren, weil Nachschub erst kommen kann, wenn das Eis ganz verschwunden ist.

Eines Morgens ist das Wasser so hoch, dass ich nun in einem braunen See wohne. Autoteile, verrottete Container und faules Holz kommen zum Vorschein. Der Inhalt meines Plumsklos mischt sich mit dem strömenden Wasser, das unter dem Haus hindurch in angrenzende Gärten fließt. Die Stimmung in der Siedlung bleibt gelassen. Das ist jetzt wirklich der Rest des Winters. Wer sehr lange Gummistiefel besitzt, holt Wasser von der Pumpe und Brennholz. Die Hofhunde liegen auf den Außenstufen der Häuser und werden auch dort gefüttert.

Auf dem Fluss sausen die Eisschollen vorbei. Sie rauschen und knistern, und ich habe Fernweh nach dem Ort, zu dem sie unterwegs sein könnten. Zuerst sind es weiße, dann Stunden später schwarze Schollen aus der Kohlenstadt Kotlas, die 600 Kilometer flussaufwärts liegt. Danach kommen Baumstämme zügig vorbei geschwommen. Fischer machen mit winzigen wendigen Motorbooten Jagd auf das Holz und ziehen es an Land.

Es ist Anfang Mai, Null Grad und Schneeregen. Mich zieht es zum Frühling nach Deutschland. Auf dem Flug nach Sankt Petersburg sitzt neben mir ein russischer Matrose, der sein Schiff in Hamburg erreichen muss. Dennoch will er erst am Abend des 9. Mai weiterfliegen, um den Tag des Sieges in der Stadt an der Newa zu feiern. Er nimmt mich mit in die Innenstadt und geht dann eigene Wege. In einem Café sitze ich neben zwei Italienern, die laut überlegen, ob es peinlich sein könnte, sich gemeinsam mit einer Deutschen die Militärparade anzusehen. Sie finden das dann doch in Ordnung und entspannen sich.

In den Straßen werden schon vor dem 9. Mai wie üblich die Veteranen gefeiert. Alte Frauen und Männer stehen in Uniform oder in Festtagskleidung mit Orden geschmückt am Rand der Parade. Es sind ihre Tage. Immer wieder kommen junge Petersburger und schenken ihnen langstielige Nelken und Tulpen. Auf dem Platz vor der Eremitage erkennt mich ein angetrunkener Mann als Deutsche und schimpft, er wolle in seiner Stadt keine Faschistin sehen. Eine Veteranin mit ausgetretenen Schuhen, einem Mantel von unbestimmter Farbe und einem bunten Blumenstrauß in der Hand nimmt mich in Schutz und versucht, den Erregten zu beruhigen. „Lass die Frau“, sagt sie zu ihm, „es ist vorbei.“

Astrid Thomsen hat zuletzt über die Region Kaliningrad geschrieben

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