Keine Menschenspur, kein Menschengeräusch

Sommerzeit in Litauen Auf Schotterpisten zum Glück

Was ist Glück? Glück ist, bei Sonnenschein nach einer verregneten, mit Mücken verseuchten Nacht über die Dünen der Kurischen Nehrung zu klettern und das Meer zu riechen und den salzigen Wind zu schmecken. Brandungswellen donnern, Strandhafer sticht in die Füße. Das hier ist wirklich Strand, nicht eine mit Mülleimern umstellte, gebührenpflichtige dröge Sandkiste. Allein schon dank der russischen Urlauber, die ihre gymnastischen Übungen machen und sich dann zum Bräunen ins flache Wasser stellen, Zeitung in der Hand, Hut auf dem Kopf, den Blick zuweilen auf kleine Punkte am Horizont gerichtet, wo Bernsteinsucher auf ihrem morgendlichen Kontrollgang sind.

Die litauische Seite der Nehrung ist hügelig und so schmal, dass an manchen Stellen die Ostsee und das Haff gleichzeitig zu sehen sind. Die Luft ist klar, riecht nach Harz und prickelt wie frisch eingegossenes Mineralwasser. Eine Teerstraße und viele verzweigte Sandwege führen von Norden nach Süden durch dichten Kiefernwald der russischen Grenze entgegen. Die Straße dorthin gilt als schnellste Verbindung zwischen Klaipeda und Kaliningrad und ist stark befahren. Viele litauische und russische Autofahrer betrachten Fahrradfahrer als ein lästiges Übel, das auf der Betonpiste nichts zu suchen hat. Trotziges Dagegenhalten hat wenig Sinn, dadurch landet man schneller im Straßengraben als einem lieb sein kann. Doch gibt es längst einige Fahrradwege, denn der größte Teil dieser Halbinsel ist Nationalpark. Und wenn die Autofahrer an der Einfahrt zum Park ordentlich abkassiert werden, darf ich mit einem "please go" passieren.

Ausgestorben, abgewandert

Der nächste Ort ist Juodkrante, wo es die beste Rote-Beete-Suppe aller Zeiten gibt. Eigentlich bin ich vorzugsweise deswegen nach Litauen gefahren. Sie ist mild und kräftig zugleich, mit viel Dill, und ihr herausforderndes Lila wird durch Sahne abgemildert. Auf den Grund des Tellers gehört ein halbes Ei. Ich hatte einen improvisierten Imbiss direkt am Haff mit Plastikstühlen, Sonnenschirmen und Rauchwolken über dem Schaschlikgrill in Erinnerung. Leider grassiert der Fortschritt - überdachte Holzbänke gibt es inzwischen, dazu einen gestressten Kellner, und die Suppe ist aus!

Ich flüchte und suche mir eine Unterkunft in einem kleinen Fischerdorf am Haff. Anscheinend ist der Ort Pervalka nur gebaut worden, um Urlauber glücklich zu machen, aber das stimmt ganz und gar nicht. Es sind einfach alle Fischer pleite, ausgestorben oder abgewandert. Stattdessen leben jetzt Touristen in den braunen Holzhäuschen, die sich zwischen großzügig angelegte Blumenbeete ducken. Manchmal ist jedes Zimmer von einer Familie besetzt, während die Besitzer solange im Schuppen aushalten.

Meine Vermieter kommen aus Kaunas und leben hier im Sommer mit Kindern und Enkelkindern. Er ist Architekt und berühmt, wie seine Frau beteuert, die den ganzen Tag auf den Beinen bleibt, den Garten pflegt und die Gäste bei Laune hält. Im Winter ist das Dorf ausgestorben, nur die Alten harren aus.

Das größte Restaurant in Pervalka hat auch einen Internetraum mit einem Computer und ist eingerichtet wie der Salon in einer amerikanischen Seifenoper, nur Sofas in der Mitte und ringsherum viel Platz. Nach dem Abendessen gehen alle noch einmal spazieren, der Ort ist sehr überschaubar, hat aber eine weitläufige Uferpromenade und eine lange Mole ins Wasser. Der Himmel verfärbt sich um diese Stunde von hellblau in rosa und wählt dann ein sattes Dunkelblau.

Am nächsten Tag bade ich im Haff. Das Wasser ist lauwarm, und der Horizont verschwimmt in der flirrenden Hitze. Ich gehe und gehe und es wird nicht tiefer. Ich wage diesen Marsch nur, weil ein Einheimischer auch geht. Die Fische im Haff sind riesig, ihre Zähne sind riesig und ihre Augen nicht selten gebrochen. Manche liegen tot am Ufer herum. Der Nemunas transportiert die Abwässer verschiedener Länder ins Haff, das zahlt sich aus.

Wie ein Maulwurfsfell

Nach drei Tagen nehme ich ein Schiff zum Festland. Früher gab es hier Linienverkehr, schnelle Luftkissenboote. Aber die sind nicht mehr rentabel, nun verdienen sich viele Kapitäne mit ihren kleinen Privatschiffen das Geld. Mein Fahrrad wird samt Gepäck von der Besatzung über die Reling gewuchtet, mit an Bord ist noch eine Reisegruppe, die diesen Ausflug gebucht hat. Wir werden zunächst an das Mündungsdelta des Nemunas gebracht. Der Strom verliert sich hier in einer Schilf- und Wiesenlandschaft, in der es den Ort Uostadvaris gibt mit seinen zwei Wohnhäusern, einem gewaltigen Storchennest, einem winzigen Hafen nebst Leuchtturm und einer Pumpanlage. Das Festland liegt hier unter dem Meeresspiegel und muss ins Haff entwässert werden.

So bin ich schon lange nicht mehr ausgeschimpft worden. Ich wollte die Wächterin der Pumpanlage fotografieren, eine sehr alte Litauerin, die diese Arbeit schon 50 Jahre macht, wie sie später erzählt. Sie schimpft und schimpft, und ich bin froh, nichts zu verstehen. Später steht sie allein am Gartenzaun, und ich entschuldige mich auf deutsch, mit russischen Brocken versehen. Sie versteht und lacht über meine Verlegenheit. Wir erzählen mit Händen und Füssen. "Auf Wiedersehen", sagt sie noch.

Das Schiff nimmt Kurs auf Minija an einem Seitenarm des Nemunas. Wir ankern an einer Wiese und gehen über ein Brett an Land. Dieser Ort wird als das Venedig Litauens bezeichnet. Das muss ein Irrtum sein. Am Fluss liegen rechts und links kleine, teils verfallene Häuser. Wer zur anderen Seite will, muss ein Boot nehmen. Kinder verdienen sich Geld mit dem Vermieten von Tretkähnen.

Ich ziehe allein weiter, lande bald in einem kleinen Hotel, dem einzigen modernisierten Gebäude im Ort und frage nach Essen. "Nein, gibt es nicht, auf keinen Fall." - "Vielleicht Butterbrote?" - "Na gut, aber mit Warten." Am Flussufer sitzt ein braungebrannter Mann in kurzer Hose, Mitarbeiter des Hotels, und nimmt Aale aus. Ich frage, ob man in dem Fluss baden kann. "Gut, gut", meint er und springt zum Beweis hinein. Ich schwimme den Ort herauf und herunter. Das Wasser ist dunkelbraun und weich wie ein Maulwurfsfell, wie ein Streicheln gegen den Strich. Danach gibt es die besten Butterbrote meines Lebens. Einfach nur Brot, Butter und Wurst, nach diesem Geschmack müsste ich zu Hause lange suchen.

Der Mann hat die Aale in der Hotelküche abgeliefert und bekommt ein riesiges Donnerwetter von seinem Chef zu hören. Ich hatte ihm ein Bier geschenkt, trinken ist bei der Arbeit verboten!

In den Wiesen hinter Minija beginnen die Schotterpisten mit Wellblechrillen, die in kaum einem Fahrradreise-Almanach über Litauen fehlen. Störche haben sich zu Herden zusammengetan. Ein älterer Mann bastelt an seinem Trecker herum. "Ja, ja, schön ist es hier", ruft er auf deutsch, "aber der Winter! Neun Monate Winter und drei Monate Sommer!" Er arbeitet weiter, und ich kämpfe gegen die Hitze und den Staub, den Lastkraftwagen meterweit hinter sich herziehen, ehe er sich mit rundem Schwung auf die Felder setzt.

Schatten suchen hat keinen Zweck, da lauern schon die Mücken. Von einem einsam liegenden Bauernhof hole ich mir Wasser. Es ist eiskalt und klar, frisch aus dem Brunnen. Die Bäuerin lächelt über mein hochrotes Gesicht, der Hund an der Kette möchte nichts lieber, als in meine Reifen zu beißen, und ein Grashalm liegt hinterm Katzenohr.

Abends suche ich nach einem geeigneten, ruhigen Platz für mein Zelt, aber das tun andere auch. Die schönsten Plätze stehen voll mit Autos und Zelten. Klaipeda ist nicht weit. Während die anderen lachen, angeln und Musik hören, bin ich wütend und habe Kopfschmerzen. An einer überfüllten Badestelle in Rusne an einem Seitenarm des Nemunas gebe ich das Suchen auf und gehe spazieren.

Am anderen Flussufer liegt schweigsam und verheißungsvoll das Kaliningrader Gebiet. Aus einigen Wohnblocks von Rusne kommen Familien, Seifenschalen und Handtücher in der Hand. Sie waschen sich im Fluss und schlendern wieder nach Hause. In einem Garten gießt eine Frau die Gemüsebeete. Sie erlaubt mir, auf dem Rasen hinter ihren Johannisbeeren zu zelten. In diesem Ort ziehen viel Armut und Trübsal über die Straßen, bettelnde Kinder rennen hinter mir her, und der abgeblätterte Putz sieht kein bisschen romantisch aus. Ein gutes Einkommen hat nur, wer es schafft mit den Touristen Geld zu verdienen.

Der Weg durch den Nationalpark um Rusne bringt wieder Schotterstraßen, aber ohne Verkehr. Wenn irgendwo die Bezeichnung "sattes Grün" zutrifft, dann hier, auf diese Weiden mit diesen schwarzweißen Kühen, die aussehen wie frisch gewaschen. Ich habe inzwischen nichts mehr zu essen und Läden gibt es in diesem Gebiet nicht. Eine Bäuerin gräbt mir einige Kartoffeln aus ihrem Garten und verkauft Eier, aus ihrem Brunnen darf ich Wasser schöpfen, auch von einigen jungen Männern, die an einem Graben angeln, bekomme ich etwas geschenkt. Noch nie habe ich mich so über ein Bier gefreut.

Am Abend bin ich wieder bei der Pumpenwärterin in Uostadvaris angelangt, mit der Hoffnung, bei ihr übernachten zu können. Ihre Tochter und ihre Enkelin sind zu Besuch. Die Enkelin spricht Englisch. "Natürlich darfst du da schlafen", sagt sie, "aber raten kann ich dir das nicht. Am Wochenende kommen immer junge Leute aus der Stadt und feiern, da kriegt niemand ein Auge zu." Mein Refugium ist schließlich ein Aussichtsturm, ringsherum nur Wasser, Schilf, Mücken und Nacht.

Geschwärzte Gesichter

Am nächsten Morgen kommt ein Auto angetuckert und heraus steigen Enkelin und Großmutter. Beide klettern die steile Leiter hoch. Ich zeige meinen Schlafsack, den Kocher und die Kaffeekanne. Die alte Frau ist beruhigt, sie dachte, ich hätte hier ohne Decke geschlafen. Ich schenke ihr ein rotes Marzipanherz, unsere Freundschaft ist besiegelt. "Davia", sage ich zur Enkelin, "du fährst Auto, wie alt bist du denn?" - "Vierzehn", grinst sie. Später werde ich samt Fahrrad von Daiva und ihrer Mutter über den Nemunas wieder nach Minija gerudert. Beide erzählen, lachen und legen sich in die Riemen. Ich schöpfe das Wasser aus dem Boot und werde gelobt.

Auf dem Weg nach Klaipeda führt die Strecke stundenlang durch Kiefernwälder an einem Kanal entlang. Das soll eine Abkürzung sein. Über eine Brücke würde ich zur Hauptstraße und zum Fähranleger kommen, hat mir Davia erklärt. Doch es gibt keine Brücke, nur Brückenreste. Die Strecke wird einsam, keine Menschenspuren, kein Menschengeräusch, nur ein Fuchs läuft vor mir her. Der Sand wird so locker, dass ich viele Kilometer schieben muss. Die Wiesen sehen aus, als seien sie extra für einen Märchenfilm mit Engeln und Feen gewachsen. Gegen Abend stehe ich auf einer riesigen Heidefläche mit niedrigen Büschen. Hinter den Sträuchern hocken Soldaten mit geschwärzten Gesichtern. Panzerrohre ragen in den Himmel. Ich schwenke meine helle Landkarte als Beweis guter Absichten und werde freundlich empfangen, ein Leutnant zeigt mir den Weg zur Fähre.

Am nächsten Tag sitze ich an Deck und sehe zu, wie sich das Schiff langsam aus dem Haff schiebt. Rechts kilometerweit Kräne und rostige Schiffe, denen man keine Seemeile mehr zutraut. Links die Stille, die Kurische Nehrung, sie liegt nicht, sie schwebt über dem Wasser. Ein etwa 70-jähriger Mann, Sonnenbrand im Gesicht, kann seinen Blick nicht vom Ufer lösen. Er ist wochenlang mit seinem Fahrrad durch Litauen gefahren. "Dieses Land" - sinniert er - "es ist eine einzige Blumenwiese."


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