Ob ich mehr als die Hälfte dieser Fleischverkaufshalle schaffe, weiß ich nicht. Es ist warm und der Geruch aufdringlich und süßlich dumpf. Wenn ich stehen bleibe und versuche, etwas Undefinierbares einzuordnen, werde ich umworben. Zuerst auf russisch, und sobald ich als Deutsche erkannt werde: "Bitte Frau, nimm, gut, sehr gut, bitte!" Es liegt ein Flehen im Ton. Die Preise sind niedrig, und trotzdem ist Fleisch für viele Kaliningrader unerschwinglich. Alles, was zum Tier gehört, wird hier verkauft. Schweinefüße, zartrosa und wenig zierlich, blasse Gehirne, wuchtige Köpfe, schlierige Därme liegen auf weißen Kacheln. Ich will nicht alles wissen und gehe schneller. Kunden schlendern durch die schmalen Gänge, und die Verkäufer, d
, die hier in der Überzahl sind, stehen in weißen Kitteln und Hauben hinter den enorm langen Verkaufstresen und versuchen, ihre Ware durch Dekoration noch besser aussehen zu lassen. Blut läuft auf den Boden und wird sorgfältig weggeputzt. Eine sehr alte, gebeugte Frau kauft nach langer Prüfung ein weißes Stück Speck. Ich kann nicht anders, ich muss an die EU-Normen denken. Beim Rausgehen streift etwas zart über meine Haare - rötlich braune Rinderzungen, einen halben Meter lang, die von der Decke hängen.Westliche Experten empfehlen Russland, besonders dem Kaliningrader Gebiet, eine zügige Annäherung an EU-Standards. Aber wie können diese Händler eine rüde Auslese überstehen? Die meisten wohl nicht. Einige würden vielleicht ein eigenes Geschäft eröffnen und wahrscheinlich EU-gerechtes Importfleisch verkaufen. Allerdings aus Deutschland, Polen und Litauen, nicht von hier.Draußen werden an niedrigen Tischen Kräuter und Kleinkram verkauft, je nach Temperament der Verkäufer engagiert oder eher nebenbei. Es wird geraucht, gelacht, getrunken, die Kräuter bekommen eine erfrischende Dusche aus der Sprühflasche. Dahinter hocken die Abfallcontainer des Fleischmarktes, schwarze Ziegenköpfe ohne Augen lagern in der Wintersonne. Ich erhole mich in der Käsehalle, probiere das Angebot. Honig gehört hier lebensmitteltechnisch zum Käse, und so mache ich mit dem Kosten von Honigsorten weiter.Warum habe ich der Frau mit dem Toilettenpapier nichts abgekauft? Vor mir bahnt sich eine kleine, fast winzige Frau den Weg durch das Gewühl. Sie zieht einen Handkarren mit einem Gebirge von Toilettenpapier hinter sich her. Das Leder ihrer Schuhe ist aufgeplatzt und zerschlissen, aber sie geht schnell und energisch. In ihrem Schlepptau komme ich bald auf die Straße zurück, eine andere Frau versucht zu erfahren, was ich in ihren Becher geworfen habe. Sie dreht den Schein vor ihren Augen, sieht offenbar nicht viel. Warum habe ich der Frau mit dem Toilettenpapier nichts abgekauft? Ist es eine ausreichende Entschuldigung, wenn ich sage, es sind einfach zu viele? Zu viele, die den ganzen Tag hoffen, dass jemand ihre drei erfrorenen Mohrrüben kauft oder das Schild liest, das sie um ihren Hals tragen, wenn sie stundenlang stehen, frieren und warten. Nein, es reicht nicht als Entschuldigung, es ist mir wahrscheinlich einfach zu peinlich mit hundert Rollen Toilettenpapier an der Bushaltestelle zu stehen. So kann ich gelassen meine Käsetüten nehmen und mir überlegen, was ich noch zum Abendbrot essen will.Wenn das Kaliningrader Oblast ab 2004 von der Europäischen Union umschlossen sein wird, sieht man hier den Kontakt zu Verwandten bedroht, die im übrigen Teil Russlands leben. Die alten Leute vom Markt haben anscheinend jetzt schon keinen mehr, der ihnen helfen könnte. Sie hoffen auf keinen Staat oder sonst wen, nur noch auf die wenigen, die Mitleid haben.Mein Vorschlag stößt bei Matrjoschka auf Empörung. "Niemals!"Ich bin nach Kaliningrad gekommen, um die Lage privater Landwirte (Fermer) kennen zu lernen. In einer Region, die von Jahr zu Jahr ärmer aussieht und den Wohlstand hinter hohen Mauern versteckt, bilden sich kleine Oasen der Zufriedenheit. "Früher hat mein Mann Leonid als Traktorist und Mechaniker für die Ehre gearbeitet, heute verdienen wir Geld!" Matrjoschka deckt mit energischen Handgriffen den Tisch für das Mittagessen. Wie von Zauberhand erscheinen in Töpfen und Pfannen fertige oder halbfertige Gerichte, die nur noch ein wenig Hitze oder Gewürz benötigen, um dann auch noch auf den Tisch gezwängt zu werden. Matrjoschka ist rund und hat strahlende Augen. "Mein Mann bekam die Orden und durfte als Held der Arbeit schöne Reisen unternehmen, ich blieb mit den Kindern zuhause. Wir hatten nur ein Zimmer." Leonid arbeitete auf der Sowchose, Matrjoschka war bei der Post beschäftigt. Nun wird sie in Rente gehen und ihre Kolleginnen vermissen. Während um sie herum in den vergangenen zehn Jahren Höfe aufgegeben und Industriebetriebe entsorgt wurden, hat sich das Ehepaar ein Refugium mit Zukunft geschaffen und ein renoviertes Bauernhaus bezogen, für das nötige Bargeld sorgen drei Hektar Kartoffelanbau. Die Knollen wachsen auf eigenem Land, wie eine Urkunde in Goldschrift festhält. Ein typischer Nebenerwerbsbetrieb, was kein Zufall ist, denn als Fermer eingestuft zu werden, brächte viele Nachteile. "Wir müssten alles offen legen und viele Steuern zahlen! So ist es besser. Und Kredite brauchen wir nicht." Mein Vorschlag, sich vielleicht auf diese Weise Geld für Investitionen zu beschaffen, stößt bei Matrjoschka auf Empörung. "Niemals!" Und ihr Hof gibt ihr recht, er wächst von Jahr zu Jahr, zum ersten Mal haben sie in diesem Winter einen selbst gebaut Kartoffelkeller zur Verfügung. Der ermöglicht es, im Frühjahr - wenn die Preise hoch sind - ihre Ware anzubieten. Und so wird es weitergehen, aus den drei Kühen werden vielleicht vier oder fünf. Zum Abschied bekomme ich eine Bernsteinkette geschenkt, sie soll mir Glück bringen, das hätte ich dringend nötig, weiß Matrjoschka, Leonid schweigt ungerührt und schweißt lieber weiter an seinem Trecker herum.Für den Rückweg nach Deutschland will ich den Zug über Polen nehmen. Am Bahnhof ist es zunächst unmöglich, in die Vorhalle gelassen zu werden. Hoher Besuch aus Moskau wird unter Polizeischutz und mit Musikkapelle verabschiedet und bekommt noch schnell die Neuigkeiten der Station gezeigt. Stacheldrahtverhaue, Gewehre, Pistolen - wo bin ich eigentlich?Die Gäste rasen von einer Attraktion zur anderen, Fernsehkameras und Reporter hasten hinterher, der Fahrkartenverkauf ruht. Dieser Bahnhof ist tatsächlich hell und schön und großzügig geworden, strahlt eine gewisse Heiterkeit aus. Wie haben die Kaliningrader das geschafft?Bei der Proviantbeschaffung für eine lange Rückfahrt werde ich von einem Jungen abgefangen. Ich soll seine Postkarten kaufen. "Sehr schön, sehr hübsch, sehr interessant", preist er seine Ware. Finde ich nicht, lauter hässlich renovierte deutsche Häuser. Ich beschreibe ihm meine Vorstellung einer guten Postkarte und lade ihn zu einer Cola ein, weiß wieder nicht, wie ich mich verhalten soll: Geld geben, keins geben, nachher werde ich ihn nicht mehr los, vielleicht lügt er, wenn er sagt, er sei obdachlos.Oleg ist zwölf Jahre alt und hat keine Zeit, zur Schule zu gehen. Er hält seine mit großen Warzen übersäte Hand unter dem Tisch versteckt und plaudert mit mir, er habe viel Erfahrung mit Touristen, meint er. Ich verabschiede mich, muss zum Zug. "Warte, ich komme gleich wieder!" Oleg rennt los und kauft etwas. Die Postkarte, die er mir schenkt, sieht genauso aus, wie von mir gewünscht: Sand, Wasser, Elche, viel Himmel.Im Zug herrscht eine nervöse, mit Lustigkeit getarnte Anspannung. Paare oder Einzelreisende, alle mit kleinen Taschen oder Plastiktüten. Nur die Ausländer wuchten ihre Koffer ins Gepäcknetz. Kurz nach der Abfahrt kommt Leben in das Abteil. Mit Hilfe einer Freundin wird aus einer dünnen, sportlich gekleideten Frau eine recht mondäne und füllige Dame im weißen Minirock. Hinter ihrem Mantel als Sichtschutz beginnt sie Zigarettenpackungen um Bauch, Oberkörper und Arme zu wickeln. Alles wird von Klebeband fest gehalten. Auch andere Reisende beginnen hin und her zu laufen, zu flüstern und auffällig unauffällig in der Toilette zu verschwinden.Später, in Grenznähe, ist die Nervosität der drallen Dame nicht mehr zu übersehen, ihre Freundin behandelt sie mit Hand auflegen. Der Zug schleicht im Schritttempo durch das Niemandsland zwischen dem Kaliningrader Oblast und der Republik Polen. Ich fühle mich wie auf einem Castor-Transport. Soldaten hängen außerhalb des Zuges an Türen und auf Trittbrettern, starren in das Gebüsch neben den Gleisen. Stacheldrahtverhaue, Gewehre, Pistolen - wo bin ich eigentlich? In Polen werden alle Passagiere durch den Zollraum im Bahnhof geschleust. Wir müssen zwischen verspiegelten Wänden warten. Die Leute fangen an, Wodkaflaschen und Zigaretten auf die zu verteilen, die nichts zu befürchten haben. Unterhosen, Mieder, Socken, Plastiktüten werden bemüht. Die Zöllner wissen, wo sie zu suchen haben. Vor aller Augen müssen sich die Reisenden ihre Schätze wieder vom Körper zerren. Als ich an der Reihe bin, reicht den Grenzern ein Blick auf die Farbe meines Passes, ich kann gehen. Die Dame im weißen Rock sitzt sehr aufrecht und mit hochrotem Gesicht vor einem Schreibtisch, auf dem Zigarettenpackungen aufgetürmt sind. Das scharfe Geräusch der reißenden Klebebänder begleitet mich zum Bahnsteig.
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