Walter Ruge ist eine Schau. "Ich bin zu Folgendem bereit: Ich kann Kaffee machen, ich kann Torte machen, ich kann Saft machen; ich kann ein bisschen Gebäck servieren, ich habe, speziell für euch, das hat ne Stunde gedauert, einen sehr schönen Obstsalat gemacht. Ich könnt mir sagen, was ihr haben wollt, dann kriegt ihr das. Wenn ihr jeden Tag hierher kommt, steht das nicht mehr zur Verfügung. Aber heute, weil es der Start ist, wollt ich nicht kleinlich sein." Walter Ruge ist Jahrgang 1915, ein Mann mit Umgangsformen und ein Freund klarer Worte. Gerade gegenüber dem Team, das ihn filmt. Die Szene steht, selbstredend, am Anfang.
Über die Schwelle. Mit Walter Ruge beschließt eine Reihe des Südwestfunks, die nun schon zum siebten Mal dem "Jungen Dokumentarfilm" einen Sendeplatz bietet. Die Filmemacher kommen allesamt von der Ludwigsburger Filmakademie, die der Dokumentarfilmer Thomas Schadt seit zwei Jahren leitet. Zu sehen waren ein Portrait des Stepptänzers Ray Lynch, der zwischen New York und Stuttgart pendelt (Rays sTAP BACK von Teresa Renn und Nathalie Schwarz), eine Nahaufnahme Gregor Gysis (Gysi und ich von Maik Bialk), die Gehversuche eines deutschen Pärchens in China (Stuttgart - Shanghai von Sandra Jakisch) oder der Blick auf die Bildproduktion unter erschwerten Bedingungen (Das Auge von Al Dschasira. Kameramann im Westjordanland von Gerd Schneider).
Walter Ruge ist ein deutscher Kommunist, und er ist es geblieben, trotz 14-jähriger Verbannung ins sibirische Straflager. "Wenn man ein bisschen real an die Dinge rangeht, und das fällt manchen sehr schwer, muss man verstehen, dass das mit Kommunismus nichts zu tun hat", sagt Ruge einmal und meint das Straflager. Regisseur Stefan Mehlhorn hat gemeinsam mit Kameramann Lars Drawert den wachen, alten Mann auf großer Fahrt begleitet: Zum ersten Mal seit 50 Jahren reist Ruge nach Igarka an den nördlichen Polarkreis. Dahin, wo die Taiga in die Tundra übergeht. Dahin, wo er seine kürzlich verstorbene Frau Irina kennen gelernt und geheiratet hat, ehe sie 1958 zurück in die DDR gegangen sind. "Das ist mein Land geworden", sagt Ruge vorsichtig, und dahinter steckt die Erkenntnis, dass es so etwas wie Heimat auch da geben kann, wo man eigentlich nie sein wollte.
In Über die Schwelle werden zwei Erzählungen der selben Geschichte gegenüber gestellt. In Potsdam sitzt Ruge vor einer Schulklasse und berichtet von seinem Leben, also vom Stalinismus, der Verhaftung wegen einer Bemerkung über den Nicht-Angriffspakt zwischen Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion auf einer Silvesterfeier 1939 in Moskau, wohin der Röntgeningenieur aufgrund seiner linken Überzeugungen früh geflohen war. Das ist die - wenn auch nicht unpersönliche - abstrakte Version eines Zeugen der Zeitgeschichte. Die private entdeckt der Film auf der Reise in die Vergangenheit, wo er für kurzen Moment vielleicht etwas zu privat wird, wenn Ruge über die Erinnerungen an seine Frau spricht. Rührselig allerdings geht es nie zu, weil Ruge nicht zum Schwelgen in Sentimentalität geboren ist. Die Szene im Heimatmuseum von Igarka, in dem seine Heiratsurkunde liegt, Bilder und andere Erinnerungsstücke, habe ihn "ein bisschen gepackt", "da kommt ein bisschen was hoch", "das schnürt die Kehle ein bisschen zu".
Überhaupt: welch ein Protagonist! Walter Ruge ist ein geborener Erzähler. Man muss bei der Szene in der Schulklasse nicht lange warten, ehe die zum ersten Mal lacht. Ruge ist jung geblieben, die Nazis nennt er noch immer "Hakenkreuzler", als handele es sich um eine verfeindete Spielplatzbande. Seinen Mund umspielt ein heiterer Zug, der an den Schauspieler Henry Hübchen erinnert. Und wenn Hübchen bei seinen Figuren Verzweiflung immer als etwas Überfordernd-Übertriebenes und damit Komisches inszeniert, dann ist es bei Ruge im richtigen Leben genauso. Regelmäßig hebt sich seine Stimme, und was bei anderen zum Keifen, Jammern, Lamentieren werden könnte, erscheint bei Ruge wundersam geerdet durch den Berliner Akzent: Der hat grundsätzlich etwas Nöliges, weshalb das Nölen selbst ihm fremd ist. Hinzukommen Respekt und Höflichkeit, selbst gegenüber unbedarften Schülern. Vor denen zetert der immer noch aktive Radfahrer nicht über das Ende der DDR, wenngleich er es als Fehler empfindet, sondern bittet bei dieser Bemerkung um Entschuldigung: "Ich möchte Euch nicht Euer zukünftiges Leben schlecht machen."
Seine Geschichte in der DDR, die er nach der Erfahrung des Lagers als Chance begriff, die Sache mit dem Kommunismus besser zu machen, hat keinen Platz in dem nur 60-minütigen Film. Das ist schade, wegen des Umgangs mit eventuellen Rissen am Ideal. Und weil Ruge ein so attraktiver Erzähler ist. Der Schule schreibt er ins Buch: "Jung bleiben durch Begegnung mit den Jungen". Alt werden wie Walter Ruge, möchte man hinzufügen. Denn das Ereignis dieses Films ist die völlige Abwesenheit von Bitterkeit. Bei so einer Biografie.
Über die Schwelle. Mit Walter Ruge läuft am 3. Dezember um 23.15 Uhr im SWR
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