Seit einigen Wochen kann man auch in Frankreich Big Brother gucken. Auf französisch heißt die Sendung Loft Story, das klingt eleganter, und deshalb sind die Containermenschen im Hexagon auch schöner, die WG-Möbel edler, der Whirlpool luxuriöser, der Sex häufiger, die Einschaltquoten bis zu 50 Prozent höher. Und auch die Franzosen plaudern gerne in Daily Talks über den Reiz von Keuschheitsgürteln und Travestie im Ehebett. Die Werbung schließlich ist auch nicht anders als im restlichen Europa, zeigt makellose Körper in retuschierter Hochglanzqualität. Und Porno-Chic ist nicht nur in Videoclips hip. Ohne Zweifel prägen zwei Phänomene unsere mediale europäische Welt am Anfang des neuen Jahrhunderts, und oft treten sie i
oft treten sie in Kombination auf: Die Omnipräsenz des nackten Körpers und das Bekennen intimster Details in der Öffentlichkeit.Auffällig ist, dass neuen Filmen und Büchern von jenseits des Rheins immer öfter der Ruf des Pornografisch-Skandalösen vorauseilt. Das begann 1998 mit Michel Houellebecqs Elementarteilchen. Kurze Zeit später kam Cathérine Breillats Romance in die Kinos. Trotz zweier Fellationen, einer Penetration und einer Ejakulation wurde die Zensur nicht aktiv - ein Glück, von dem Breillats Kollegin Virginie Despentes nur träumen kann: Baise-moi (Fick mich), eine Art Hardcore-Remake von Ridley Scotts Thelma and Louise, wurde in Frankreich in die schwüle Dunkelheit der Pornokinos verbannt. Im August wird Breillats neuer Roman Pornocratie erscheinen. Derzeit arbeitet die Neo-Feministin an der Verfilmung des Buchs, wie schon im Fall von Romance mit dem von ihr hochgeschätzten Rocco Siffredi, einem italienischen Pornostar.Diskurs über den Körper im Gewand des AutobiographischenIn der Literatur sind es vor allem Frauen, die den neuen Ton des Begehrens angeben: Vorbei die Zeiten, als Simone de Beauvoir für ihr feministisches Manifest Le deuxième sexe 1949 von ihren männlichen Schriftstellerkollegen als "Pornographin" und "Lesbe" beschimpft wurde, nur weil sie Wörter wie "Vagina" und "Klitoris" benutzt hatte. Heute schreiben Frauen in durchweg angesehenen Verlagen über Bumsen, Blasen und Arschficken - und die großen Feuilletons jauchzen vor Lust und Begeisterung. Unter dem Motto "Les nouvelles scandaleuses" bietet der Fernsehsender France Inter seinen bildungshungrigen Zuschauern seit kurzem gar ein allsonntägliches Portrait jeweils einer der "Pornographinnen" an.Der aktuelle literarische Trend hat noch dazu eine Eigenart, die den erwähnten Filmen abgeht, eine Art doppelter Authentizität. Als wäre es nicht genug, über das authentischste aller Themen schlechthin zu schreiben, kleidet die Mehrzahl dieser weiblichen Texte den Diskurs über den Körper in das Gewand des Autobiographischen.Die Hysterie der Medien angesichts der weiblichen "Pornografie" wirft zwei Fragen auf: Erstens, haben diese schreibenden und filmenden Frauen wirklich soviel gemeinsam, etwa eine spezifisch weibliche Sicht auf Sex und Pornografie? Und zweitens: Ist nun also auch die Literatur, eine der letzten elitären Bastionen gegen den medialen Exhibitionismus à la Loft Story, endgültig dem seichten Offenbarungstrend anheimgefallen? Drei jüngere Publikationen machen deutlich, dass beide Fragen mit "nein" zu beantworten sind.Vor wenigen Monaten ist ein Roman in deutscher Übersetzung erschienen, der bei seinem Erscheinen in Frankreich vor eineinhalb Jahren augenblicklich zum Skandal und mit 200.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller wurde, Christine Angots Inzest. Eine Ich-Erzählerin - sie trägt den Namen der Autorin - berichtet in aller Genauigkeit von ihrer dreimonatigen homosexuellen Affäre mit einer Ärztin, eine Geschichte voller Leidenschaft, Ekel und Wahnsinn. Der im Titel angesprochene Inzest mit dem Vater wird erst auf den letzten Seiten des Buchs zum Thema, mit allen abstoßenden Details, erzwungenem Oral- und Analverkehr, im Auto, in einem Beichtstuhl, in Hotels. Angot selbst ist am Skandal alles andere als unschuldig: Ihre Romanfiguren tragen die wirklichen oder nur unwesentlich veränderten Namen real existierender Personen. Mit Sätzen wie "Inzest ist wahrhaftig das Buch, in dem ich mich als einen großen Haufen Scheiße präsentiere" drängt Angot ihren Lesern die autobiographische Lesart regelrecht auf - und zeigt sich im Fernsehen und auf Lesungen dann empört, wenn die Rezipienten sie beim Wort nehmen. Unter solchen Spielereien leidet das eigentliche Thema des Buchs: In welcher Form läßt sich adäquat über seelisches und körperliches Begehren schreiben und über all die Einsamkeit, den Hass und den Ekel, die mit ihm einhergehen? Angots Sprache gleicht einem wutschnaubenden Monolog, sie ist drastisch und dabei bewusst artifiziell. Fugenartige Wiederholungen, seitenlange Zitate und eine mehr als ungewöhnliche Interpunktion erschweren den Lesefluss ganz erheblich. Eines kann man dieser Sprache ganz gewiss nicht vorwerfen, nämlich dass sie authentischer Ausdruck von wirklichen Erfahrungen sei. Angot will eben mehr als nur "ein beschissenes Zeugnis" ablegen.Keinen Roman, aber ein Zeugnis hat Raffaëla Anderson geschrieben. Bekannt geworden ist die ehemalige Pornodarstellerin durch ihre kompromisslose Rolle in Baise-moi: "Ich mußte mich nicht überwinden, um in Virginie Despentes´ Film zu spielen, denn ich hatte den Hass in mir", sagt sie. Mit ihrem vor wenigen Monaten erschienenen Bestseller Hard bleibt sie ganz auf dieser Linie. Anderson erzählt, wie sie - achtzehnjähriges, sexuell noch völlig unerfahrenes Mädchen aus der Vorstadt - ihren Körper zu einer Filmware degradieren lässt. Das schnell verdiente Geld lässt sie ihren Ekel schnell vergessen, und schließlich ist da ja noch der "Big Boss", in den sie sich ein wenig verliebt hat. Paradoxerweise wird gerade dieses autobiographische Pamphlet, geschrieben ohne jede literarische Absicht, keinen Skandal provozieren, denn es es ist schlicht zu politisch korrekt. Anderson erzählt von der Respektlosigkeit, die den Frauen im Business entgegenschlägt, von den körperlichen und seelischen Schmerzen, von Alkohol und Koks, von Aids und davon, dass niemand eine vergewaltigte Pornodarstellerin ernst nimmt. Das alles ist nicht gerade subtil, aber es relativiert die Talkshow-Auftritte von Pornostars wie Dolly Buster und Gina Wild, die - warum auch immer - die Pornofiktion der unbeschwerten Lust in die Realität hinüberretten wollen.Den literarischen Skandal des Jahres aber verantwortet die angesehene Kunsthistorikerin Cathérine Millet, Herausgeberin der Zeitschrift Artpress. La vie sexuelle de Cathérine M. verkaufte sich innerhalb eines Monats 120.000 Mal. Das Buch ist eine durch und durch pornografische "éducation sexuelle". Millet beschreibt Szenen, von denen man dachte, es gäbe sie so nur in Männerphantasien und Hardcore-Filmen. Gruppensex-Parties ("partouzes") auf Parkplätzen, im Bois de Boulogne, in Swinger-Clubs, und mittendrin immer wieder Millet: Passiv auf einem Tisch, einer Motorhaube oder in einem Sessel liegend, nimmt sie so viele Glieder in alle Öffnungen ihres Körpers auf, wie sie nur kann. Manchmal dreißig hintereinander. Und fühlt sie sich dabei doch aktiv wie "eine Spinne im Netz" und stets respektvoll behandelt. Eine Fellatio hat hier nichts mit Unterwerfung zu tun, sondern bietet die Gelegenheit zu einer nüchternen Phänomenologie männlicher Geschlechtsteile.Die Autorinnen sind entweder strenge Formalistinnen ...Für den 68er-Hasser Houellebecq ist die Ungleichheit der Körper der Ursprung allen Übels. Allein die Schönen haben einen Marktwert, den Hässlichen bleibt nur Masturbation. Millet teilt diesen hysterischen Pessimismus nicht, aber sie idealisiert auch nicht: 1968 ist sie zwanzig Jahre alt und treibt es mit Schönen und Hässlichen, mit Fetten und Dünnen, mit Großen und Kleinen, sie "bumst wie sie atmet". Hat man jemals leidenschaftsloser über Sex geschrieben als Millet es tut? Flaubert hätte seine helle Freude gehabt an dieser "impassibilité" in der ersten Person. "Ich bin eine Formalistin", sagt die Autorin von sich und verschwindet förmlich hinter ihrer Erzählung, die sie nüchtern und analytisch in die Kapitel "Die Anzahl", "Der Raum", "Der zusammengefaltete Raum" und "Details" untergliedert hat. Was übrig bleibt, lässt sich schwerlich als erotische Literatur bezeichnen, am ehesten noch als die Autobiographie eines Körpers. Und gerade darin liegt die Provokation, denn Millets Unternehmen passt weder zum traditionellen Feminismus noch zum Machismo. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes un-moralisch. Gleichzeitig deutet sich hier aber an, welcher Preis für diese Form sexueller Freiheit zu zahlen ist: Das Begehren nach dem Anderen, das bei Angot noch eine so große Rolle spielt, wird bei Millet regelrecht ausgelöscht. Die Männer, mit denen die Protagonistin es treibt, haben keine Namen und kein Gesicht. Sie erscheinen als auf Penisse reduzierte Statisten auf der Bühne des Gruppensex, Insekten im Netz der selbsternannten Spinne. Ein Phänomen, für das der französische Philosoph Gilles Lipovetsky bereits 1983 das treffende Wortspiel "sexduction" erfunden hat; die Verführung verschwindet in einer repetitiven Ausschweifung ohne Geheimnis. Das bleibt nicht ohne Folgen für den Leser: Die Lektüre ist weder lustvoll noch schmerzhaft, sondern wird mit jeder Seite ermüdender.
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