Als ich Halima frage, ob ich unser Gespräch aufzeichnen dürfe, wartet sie die arabische Übersetzung meines Begleiters gar nicht ab - sie umarmt mich. Die Reise durch ein palästinensisches Leben kann beginnen. Dieses Leben hat Halima als Mutter von zehn Kindern in das Lager Balata im Westjordanland verbannt, eine Existenz ohne Hoffnung darauf, dieses Asyl der Erbärmlichkeit jemals verlassen zu können. Ihr Sohn wurde zum Selbstmordattentäter.
Von November 2002 bis Ende Januar 2003 hielt ich mich im besetzten Palästina auf, im Gazastreifen und in der Westbank, um dort mit anderen Friedensaktivisten gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht zu leisten. Die Aktion ging vom International Solidarity Movement aus, einem Verband, der seit Beginn der Al-Aksa-Intifada im September 2000 existiert. Im Balata-Lager (Westjordanland) stieß ich auf die Geschichte der 53-jährigen Palästinenserin.
Halimas jüngster Sohn Jihad Al-Titi sprengte sich Ende Mai 2002 in Tel Aviv in die Luft und tötete dabei zwei Israelis. Er war 18 Jahre alt. "Mein Sohn", erzählt Halima, "war kein Mitglied der Hamas, er war auch nicht fanatisch religiös, sondern ein normaler junger Mann mit Zukunftsplänen."
Entgegen dem in Europa vielfach verbreiteten Eindruck, palästinensische Mütter würden ihre Kinder zu solchen Attentaten auffordern, hatte Halima keine Ahnung vom Entschluss ihres Sohnes. Auch erhielt sie danach von niemandem Geld. Die Legende, die Hinterbliebenen der Attentäter würden entlohnt, wird in der amerikanischen Presse verbreitet, oft mit dem Hinweis, die Zuwendungen kämen aus Quellen von al Qaida oder von Saddam Hussein.
Ein älterer Mann aus Balata versucht mir später zu erklären, die jungen Männer und Frauen erlangten durch die Bereitschaft, den eigenen Körper zu zerstören, ihre Würde zurück. Als ich ihn frage, ob er es wirklich rechtfertigen könne, unschuldige Israelis zu töten, hält er unerbittlich dagegen, israelische Soldaten und Siedler würden täglich unschuldige Palästinenser töten, auch viele Kinder. Die Attentate seien gerecht.
Anfang April 2002 besetzt die israelische Armee zum ersten Mal das Balata-Lager und eröffnet das Feuer auf protestierende Jugendliche in den Straßen des Camps. Ein Freund von Jihad Al-Titis wird angeschossen, es ist den Ambulanzen zunächst nicht erlaubt, die Verwundeten abzutransportieren. Als Jihad seinen Freund aus dem Schussfeld holt und in Sicherheit bringt, wird er selbst verletzt.
Wenige Tage später steht ein Bulldozer vor dem Haus seiner Mutter. Soldaten stürmen hinein und schließen die Familie im zweiten Stock ein. Halima hat das Haus gerade für die Hochzeit eines ihrer Söhne geschmückt, die Soldaten zertrampeln die Dekoration und zerschlagen die Einrichtung. Fliesen brechen in der Küche, überall liegen Glasscherben. Doch als der Bulldozer in Aktion treten will, taucht ein ausländisches Fernsehteam auf. Die Soldaten ziehen sich zurück.
Halima beginnt zu weinen, als sie mit der Geschichte der ersten Besetzung des Balata-Lagers fortfährt. Am Vormittag des 9. April kehrt ihr ältester Sohn Munir, 36 Jahre alt, zusammen mit seinem halbwüchsigen Sohn Saleh vom Markt zurück. Als beide fast an der Haustür sind, fallen Schüsse. Saleh verliert seinen rechten Zeigefinger, später muss auch der Daumen der rechten Hand amputiert werden. Seinen Vater trifft es sehr schlimm: ein Granatsplitter verletzt das Rückgrat. Munir ist gelähmt und sitzt heute im Rollstuhl.
Am 28. April 2002 stehen die Israelis erneut im Balata-Lager. Tagelang kreisen Helikopter über den Köpfen der Bewohner und suchen angeblich nach Terroristen. "Alle Palästinenser zwischen 15 und 50", sagt Halima, "sind für die Armee Terroristen. Fast jeder ist schon verhaftet worden, und wenn es nur für einige Tage ist." Diesmal wird das Haus ihrer Verwandten eingeebnet. Nur ein Skelett aus Stahlträgern bleibt übrig. Das Dach, Türen, Fenster, Wände sind wie weggeblasen. Es ist das Haus von Jihads Cousin und bestem Freund Mahmoud. Einen knappen Monat später, am 22. Mai 2002, wird Mahmoud bei einem Angriff der Israelis auf eine Schülerdemonstration getötet.
Halima erzählt: "Ich musste Jihad ins Krankenhaus bringen, weil er an diesem Tag vollkommen unter Schock stand. Er weinte und zitterte. Nach der Behandlung weigerte er sich, das Hospital wieder zu verlassen. Er wollte die Nacht in dem Raum verbringen, in dem man die Leiche seines Cousins aufgebahrt hatte. Am nächsten Morgen, während des Begräbnisses von Mahmoud, verlor er das Bewusstsein."
Einen Tag später zerstören Bulldozer nicht nur weitere Häuser im Balata-Lager, sondern auch Gräber auf dem nahe gelegenen Friedhof. Die Armee lässt mitteilen, in Mahmouds Haus habe man eine Bombenwerkstatt entdeckt, die Zerstörung sei daher gerechtfertigt.
Halima erinnert sich daran, wie sehr Jihad um seinen toten Cousin trauerte. "Drei Tage und Nächte saß er an Mahmouds Grab und weigerte sich, es zu verlassen. Er war davon überzeugt, ihn würden sie als nächsten töten. Dann verschwand er. Niemand hatte eine Ahnung, wohin. Nach einer Woche konnte ich ihn endlich auf seinem Handy erreichen. Ich flehte, komm zurück, wir wollen gemeinsam in der Familie trauern. Warum willst du dich deinem Kummer allein hingeben? Er sagte nur: Ich bin weit weg von dir. Eine lange Zeit wirst du auf mich warten müssen. Aber ruf mich nicht mehr an. Dann schaltete er sein Telefon ab."
Zwei Sunden nach diesem Gespräch, am 28. Mai 2002, gegen 18.40 Uhr, betritt Jihad Al-Titi ein Straßencafé in Tel Aviv, einen Gürtel aus Sprengstoff umgebunden und zum Sterben bereit. Er tötet sich selbst und zwei Israelis und verletzt 50 andere Gäste des Cafés und Passanten. Er ist der erste Attentäter, der aus dem Balata-Lager kommt. Zehn Tage später dringt ein Freund Jihads in eine israelische Siedlung ein, eröffnet das Feuer auf Soldaten, die gerade trainieren, und wird erschossen.
Nach dem Anschlag vom 28. Mai bleiben alle Anträge Halimas an die israelischen Behörden unbeantwortet, der Familie den Körper Jihads zu übergeben.
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