Die gegenwärtige Diskussion über die Reform des Sozialstaats in Deutschland lässt sich schwer in die alten Codes sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit rückübersetzen. Schon der Begriff Reform führt in die Irre. Noch in den siebziger Jahren war in der Sozialpolitik unter Reform die Herstellung eines besseren Zustandes oder die Beseitigung eines Missstandes, wie Armut und Unterersorgung oder die Herstellung von Chancengleichheit verstanden worden. Heute wird Reformpolitik in eins gesetzt mit Sparpolitik, die im Kern den Abbau sozialer Leistungen meint. Denn jeder Bürger weiß, dass mehr Sozialausgaben zu seinen Lasten gehen. Dieser Verteilungskampf produziert neue Legitimationsformeln und Ideologismen. So ist es in Deutschland populär den Leistungsabbau für Arbeitslose damit zu rechtfertigen, dass neue Arbeitsplätze entstünden, weil die Bereitschaft zu arbeiten gesteigert werde. Hier werden Anleihen aus der alten deutschen Armutskultur gemacht: »Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen«.
Die neue Sprache
Aber auch auf der Achse der Erklärung der Ursachen der deutschen Arbeitslosigkeit hat eine sprachliche Verschiebung von ökonomischen Krisendefinitionen zum Paradigma des freien Marktes stattgefunden, indem sich Angebot und Nachfrage dann harmonisiere, wenn in das Spiel der freien Kräfte niemand eingreife. Gegen diese neue Hegemonie der Finanz- und Geldpolitik ist mit moralischen Argumenten schwer anzustänkern. Für diese Hegemonie der Fiskalpolitik steht auch die Debatte über die sogenannten Lohnnebenkosten. Sie ist in den Mittelpunkt der Reformarena gerückt, weil sie jedem Stammtisch glaubhaft machen konnte, dass in Deutschland die Arbeit zu teuer, die Sozialabgaben und Steuern für den Unternehmer zu hoch und überhaupt eine Deregulierung der Arbeitsmarktes für mehr Wachstum zwingend geboten sei. Der Druck steigender Arbeitslosigkeit, die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft und auch die Belastungen der deutschen Einheit haben den Druck auf die Politik verschärft, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Man kann an der Konjunktur des Themas Lohnnebenkosten viel lernen über die Verbreitung und die Mächtigkeit eines Arguments, dessen Schlichtheit und einfache Vermittlung den Erfolg garantiert.
Das alte Modell
Aber diese Erfolgsgeschichte eines Begriffs ist nicht ohne ihre Verbindungen zur Geschichte des deutschen Sozialstaats zu verstehen. Der Bismarcksche Sozialstaat baut im Kern auf die Erwerbsarbeit eines männlichen Industriearbeiters auf. Dieser war ökonomisch, politisch und kulturell die Vorgabe für die Entwicklung eines sozialen Sicherungssystems, das die soziale und politische Integration der Arbeiterschaft leisten sollte. Dieses soziale Sicherungssystem wurde zentral als Beitragssystem institutionalisiert, das Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen in die Pflicht nahm und im weiteren Verlauf auf alle Erwerbstätige angewandt wurde. Das paritätische Modell war für die deutsche Entwicklung prägend und galt bis in die frühen achtziger Jahre als großer Erfolg. Zur Kultur deutscher Sozialpolitik gehört auch, dass Erwerbsarbeit die Voraussetzung für soziale Leistungen war. Wer nicht am Arbeitsmarkt teilhatte wie zum Beispiel die Frauen, war entweder vom Ehemann abhängig (Modell Witwenrente) oder war auf fürsorgerische Hilfen verwiesen. In den Systemen der sozialen Sicherung war die Arbeits- und Leistungsethik fest verankert und hat stärker als in anderen Ländern das Äquivalenzprinzip gegenüber dem Solidarprinzip betont. Typisch für das deutsche Modell ist auch die starke Familienorientierung, das heißt die sozialen Sicherungssysteme haben Familienleistungen integriert wie zum Beispiel die Mitversicherung von Frau und Kind in der Krankenversicherung.
Die neue Krise
Dieser kurze Ausflug in die Geschichte des deutschen Sozialstaats macht deutlich, wie krisenanfällig das deutsche System ist. Denn alle Einnahmen der sozialen Sicherung hängen von Erwerbstätigkeit und Beitragszahlern ab. Es ist die Arbeitslosigkeit, die die Last der Beitragszahlungen auf immer weniger Schultern verteilt und die Ausgaben für soziale Leistungen in die Höhe treibt. Ob nun diese Krise des Arbeitsmarktes nur hausgemacht ist oder ob sie eine strukturelle Dimension im Sinne einer der Krise der Arbeitsgesellschaft insgesamt hat, darüber streiten die Experten. Die Bundesregierung hat sich auf die Seite der nationalen Lösbarkeit dieser Probleme geschlagen. Sie konzentriert die Reform auf die Ausgabenseite und glaubt die künftigen Probleme so in den Griff zu bekommen. Dabei blendet sie eine inzwischen gut begründete Debatte über die Krise der Arbeitsgesellschaft aus: den internen Wandel als Folge des technischen Fortschritt und den externen Wandels infolge der Globalisierung der Wirtschaft und der Kommunikation.
Es gibt gute Argumente dafür, dass es sich bei dieser Krise um einen Gestaltwandel moderner Industriegesellschaften handelt, denen durch die in der »Agenda 2010« enthaltenen Reformvorhaben nicht beizukommen ist. Ein kritisches Symptom dieses Gestaltwandels ist die auch in anderen Industriestaaten zu beobachtende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen die über eine Quelle für ihren Lebensunterhalt verfügen und denen, die bar jeder Existenzsicherung sind. Der Prozess der Schrumpfung der erwerbstätigen Bevölkerung wird in Europa unterstützt durch die demografische Entwicklung einer alternden Bevölkerung. Längst müssten die Weichen für eine neue Erwerbs- und Arbeitskultur gestellt werden. Man könnte von Schweden lernen, wo auf die künftige Knappheit an Arbeitskräften durch eine verstärkte Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt reagiert wird. In der Politik der Bundesregierung wird die Erwerbsarbeit der Frau aber immer noch auf die Rolle der Zuverdienerin festgelegt. Eine Antwort auf diese Herausforderungen der Zukunft fehlt in der »Agenda 2010«, die so gesehen kein großer Wurf, sondern eine kleine fiskalisch motivierte Notmaßnahme. ist. Wie kurz die Reichweite der deutschen »Reform«politik ist, zeigt sich auch darin, dass Investitionen in den künftigen Qualifikationsbedarf der Gesellschaft fehlen.
Warum aber werden diese kleinen Schritte des Umbaus der Sozialversicherungssysteme, zu Stolpersteinen in der internen Auseinandersetzung der SPD? Gibt es tatsächlich den befürchteten Bruch mit der Tradition einer Kultur der Erwerbsarbeit und der damit verbundenen sozialen Sicherheit, in der Gerechtigkeit als Solidarität innerhalb der Erwerbsgemeinschaft definiert war? Ohne Zweifel verschlechtern die geplanten Maßnahmen die »Rendite« an sozialer Sicherheit, die durch Erwerbsarbeit erworben werden kann. Die Arbeitsmarktpolitik, die Gesundheitspolitik und die Rentenpolitik sollen den Staatshaushalt entlasten. Die in der »Agenda 2010« enthaltenen Sanierungsvorschläge in der Arbeitsmarktpolitik vollziehen einerseits längst fällige Notwendigkeiten der Entbürokratisierung (der Bundesanstalt für Arbeit) nach, andererseits machen die angekündigten Leistungskürzungen den Arbeitslosen zum Täter seiner sozialen Lage, indem er beim Verkauf seiner Arbeitskraft versagt hat. Hier greift die Ideologie einer liberalen Arbeitsmarkttheorie, die annimmt, dass mehr Druck auf den Arbeitslosen mehr Flexibilität erzeugt.
Die moralische Empörung im sozialdemokratischen Milieu gilt aber nicht nur der sozialen Lage der Betroffenen, es wird vielmehr ein Ausstieg aus einer Vollbeschäftigungspolitik befürchtet. Die Kultur der Erwerbsgesellschaft selbst scheint gefährdet. Die sozialdemokratischen Kritiker verzichten allerdings auf eine Antwort auf die veränderten Rahmenbedingungen der Sozialpolitik und dem dadurch notwendig gewordenen neuen Gerechtigkeitsdiskurs. Auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik wird im Plan der Bundesregierung eine über Jahre anhaltende Kostendebatte durch kurzfristige Maßnahmen fortgesetzt. Man bleibt einerseits im System, indem nur am Beitragsaufkommen der Erwerbstätigen herumgedoktert wird, andererseits, weil eine Strategie der Selbstbeteiligung Belastungsgrenzen hat, wird eine Leistung, das Krankengeld, aus der paritätischen Finanzierung herausgenommen - ein Angriff auf die sozialpolitische Verhandlungskultur der Bundesrepublik.
Das ruft viele Gegner auf den Plan. Denn der Vorschlag der Rürupkommission, eine Kopfpauschale für jeden Bürger einzuführen und die Arbeitgeber von Beiträgen zu befreien, verstärkt diese Richtung. Er hatte allerdings in der Kommission keine Mehrheit und wird auch in der Politik keine erhalten. Die Agenda ist an diesem Punkt zurückhaltend, denn sie macht sich auch den zweiten richtungsweisenden Vorschlag der Kommission, alle Einkommen an der Finanzierung zu beteiligen, nicht zu eigen. Erstens würde dies die Mittelschichten auf den Plan rufen und damit eine neue Konfliktfront aufmachen. Zweitens springt der Vorschlag zu weit aus der deutschen Tradition der Sozialversicherung in Richtung Bürgerversicherung, wie sie andere europäische Länder wie die Schweiz, Holland oder Dänemark kennen. Die Bundesregierung will im System bleiben und weil diese Beharrlichkeit teuer wird, reißt sie überall Löcher durch Privatisierung auf. Auch an der gut deutschen Tradition der Familienmitversicherung wird nicht gerüttelt.
Und die Renten? Diese sollen nachhaltig finanzierbar sein. Sie verschlingen den größten Brocken der staatlichen Sozialausgaben. Das Szenario der Demografie ist dienlich, denn mit dem Altersaufbau lässt sich sowohl die Erhöhung des Rentenalters auf 68 Jahre, wie auch die Kürzung der künftigen Renten gut legitimieren. Nun sind die Renten im besonderen Maße an eine individuelle Erwerbsbiografie gebunden. Die Rente gilt als Lohn für ein erfülltes Erwerbsleben. Schon die Einführung der sogenannten Riesterrente hat die gesetzliche Rente insofern billiger gemacht, als die private Vorsorgeaufwendung ein Minus bringt. Nun wird ein zusätzlicher demografischer Faktor eingefordert. Damit ist vorhersehbar, dass für viele Menschen die Rente auf Sozialhilfeniveau wahrscheinlicher wird. Damit schwächt die gesetzliche Alterssicherung ihre historisch starke Funktion, an die Erwerbsgesellschaft gebunden zu haben. Für die Anhebung der Altersgrenze spricht die längere Lebenserwartung, die ein längeres Erwerbsleben möglich machen würde. Den tatsächlichen Gegebenheiten des jetzigen und künftigen Arbeitsmarktes wird sie nicht gerecht. Denn der Glaube daran, dass Arbeit für alle vorhanden ist, bleibt ungebrochen und die soziale Sicherung wird davon abhängig gemacht. Dabei ließen sich andere Modelle im europäischen Ausland studieren.
Die fehlende Kraft
Dass in Deutschland die Bismarcksche Idee des Sozialstaats ungebrochen weiterlebt und geradezu eine hysterische Reaktion auf alle Vorschläge steuerfinanzierter Anteile und damit gerechter Verteilung auf alle Bürger vorherrscht, offenbart die politische Schwäche der Bundesregierung. Das deutsche Problem, alle sozialen Leistungen auf Beitragsaufkommen aufzubauen hat aber seine Grenzen in der Krise des Arbeitsmarktes gefunden. Andere Wege sind aktuell verbaut durch die Steuerkrise, die die Bundesregierung offensichtlich nicht durch andere Steuerquellen heilen will und machtpolitisch auch nicht durchsetzen kann, obwohl Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine niedrigere Steuerquote hat. Die Maastrichtkriterien haben Deutschland im besonderen Maße in die Zange genommen und die gegenwärtige Politik hat nicht die Kraft, einen politischen Konsens über ein neues Sozialstaatsmodell zu finden, in dem alle Bürger gleichermaßen an Pflichten und Rechten des Sozialstaats teilhaben. Der deutsche Pfad, der vielfach im Ausland bewundert wurde, erweist sich in dem Maße als Sackgasse, wie nicht über neue Wege einer gerechten Gesellschaft gerungen wird und neue Mehrheiten gesucht werden, sondern Altes billiger oder, wie viele Kritiker es wollen, Altes nur bewahrt werden soll.
Barbara Riedmüller ist Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Leviathan. Von 1989 bis 1991 war sie Senatorin für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin.
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