Die Situation gleicht dem Wellengang auf dem Meer. Dramatische Bilder halberfrorener und ausgezehrter Flüchtlinge, die irgendwo in Lampedusa, Tarifa oder Zakinthos an Land gehen, lassen kurzzeitig die Wellen aus Entrüstung und Mitgefühl höher schlagen. Vergessen, verdrängt, vorbei - bis das nächste Flüchtlingsboot kentert. Dabei überqueren Schlauch- und Holzboote, Lastkähne und Motorschiffe täglich das Mittelmeer. Ihre Fracht sind Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt, die schon kilometerweite Fußmärsche, Busfahrten und Flüge hinter sich haben, ehe sie die Hafenstädte erreichen. Jetzt heißt es abwarten. Wer die teuren Passagen nicht zahlen kann, muss dafür illegal arbeiten, betteln oder sich prostituieren. Viele kehren resigniert ins Heimatland zurück.
Unbekannt ist die Zahl der Boatpeople, die Europa lebend erreichen. Unbekannt ist auch die Zahl derer, die es nicht schaffen. "Der Tod im Wasser kommt nicht schnell, und er ist auch nicht gnädig" schreibt der Hamburger Zeit-Journalist Michael Schwelien. "Selbst die wärmeren Gewässer sind draußen, unweit der Küsten, viel zu kalt für Menschen. Wer über Bord geht, erfriert, während er noch kämpft, Wasser schluckt und schon weiß, dass er keine Chance mehr hat zu überleben. An Bord sterben Menschen noch langsamer, noch qualvoller. Sie verdursten, sie werden zerquetscht, Frauen verbluten, während sie ein Kind zur Welt bringen."
Flüchtlinge gibt es aber nicht nur aus dem Süden - eine andere Welle rollt aus dem Osten. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich neue Märkte aufgetan. Das Geschäft mit der Ware Mensch blüht. Offiziellen Angaben zufolge verdingen sich etwa 500.000 Osteuropäerinnen in den Bordellen Westeuropas. Mangelnde Arbeitsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven in den Herkunftsländern machen sie zur leichten Beute. Stellenangebote der Tagespresse versprechen lukrative und seriöse Jobs als Haushaltshilfe, Dolmetscherin, Fotomodell und Kellnerin. Für Vermittlungsgebühr und Reisekosten müssen horrende Summen aufgebracht werden, was die jungen Frauen in starke finanzielle Abhängigkeit treibt. Angekommen im Zielland, werden ihnen die Ausweispapiere von den Menschenhändlern abgenommen, wodurch die Illegalisierung besiegelt ist. Wer sich weigert als Prostituierte zu arbeiten, wird durch Gewalt gefügig gemacht. Unersättlich scheinen Markt und männliche Begierden im Westen.
Ob aus dem Süden oder Osten - immer stoßen die Flüchtlinge auf die Sperrzäune der Festung Europa. Modernste Patrouillenboote und Radartechnik, Hubschrauber und Satelliten sichern die EU-Küsten. Auf der Balkanroute über Österreich nehmen Bundesheer und Gendarmerie mit "Schengenbussen" die Flüchtlinge ins Visier. Doch im High-Tech-Zaun nahe Bratislava gibt es immer wieder Schlupflöcher, die Schlepper gegen Cash auskundschaften. Jenseits der Grenze verläuft die Autobahn. "Dort setzen die Schlepper die Leute ab, die nach Österreich wollen" hält Schwelien fest. "Sie weisen auf markante Orientierungspunkte im Westen wie den Turm der barocken Kirche in Deutsch-Jahrndorf" und erzählen den völlig ahnungslosen Flüchtlingen, das sei der Berliner Dom: "Da musst du hinlaufen."
Wie viele Menschen genau über die Grenze kommen, weiß niemand. "Weltweit ist Europa Zuwanderungskontinent Nummer eins" zitiert Schwelien die französische Le Monde. Im Ranking der Zielstaaten steht Deutschland auf Platz Nr. 1, gefolgt von Frankreich und Großbritannien.
"Schengen" heißt das Zauberwort, das die Reisefreiheit ohne lästige Personenkontrollen in 13 EU-Staaten (ohne Großbritannien und Irland) garantiert. Die offenen Binnengrenzen gehen mit verschärften Kontrollen der Außengrenzen einher. Längst sind nationale Polizei- und Zollbehörden miteinander vernetzt, nutzen das "elektronische Fahndungsbuch" und das SIS (Schengener Informationssystem) für Personen- und Objektkontrollen. Seit Januar 2003 steht der Exekutive auch das Eurodac-System zur Verfügung, das mit Daten und Fingerabdrücken von papierlosen Asylbewerbern und aufgegriffenen Illegalen gefüttert wird. Nunmehr sind alle nationalen Entscheidungen zu Asylanträgen per Knopfdruck abrufbar und das oftmals praktizierte "Asyl-Shopping" nicht mehr möglich.
Bei den alteingesessenen 15 EU-Mitgliedsstaaten hat sich die Anzahl der Asylgesuche in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte reduziert, was auf eine restriktive Gesetzgebung sowie die elektronische Aufrüstung der Schengen-Grenzen zurückführen ist. Bei Lichte betrachtet handelt es sich nur um eine bereinigte Statistik. Offizielle Schätzungen gehen von 500.000 Einwanderern ohne behördliche Registrierung aus, die jährlich in die Schengen-Staaten einreisen. Erschreckend hoch scheint die Zahl - und doch niedrig angesichts der 40 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind.
"Das Boot ist voll", erklären diejenigen, die Angst vor Überfremdung und Terrorismus, sowie vor steigenden Arbeitslosenquoten und sinkenden Sozialleistungen haben. Schwelien denkt anders und befindet sich damit in prominenter Gesellschaft. Erst kürzlich hat UN-Generalsekretär Kofi Annan die EU zur "Politik der gesteuerten Einwanderung" aufgefordert "anstatt Zuwanderer zu Sündenböcken für eine Vielzahl sozialer Probleme zu machen."
Von der gesteuerten Zuwanderung können alle profitieren, meint Schwelien und weist auf unsere von Überalterung und Geburtenrückgang gekennzeichnete Gesellschaft. Stimmen die Prognosen, so sinken in Deutschland, Österreich und Italien die Bevölkerungszahlen um 25 Prozent bis zum Jahr 2050. Entsprechend der jährlichen Schrumpfungsrate könnten Einwanderungswillige ins Land geholt und Migranten der zweiten Generation endlich mit der Staatsbürgerschaft ausgestattet werden. Neben einer Abfederung der krisengeschüttelten Renten-, Sozial- und Gesundheitssysteme könnten somit auch Personalressourcen in den Branchen geschaffen werden, die ohnedies viele Migranten illegal beschäftigen. (Hotel- und Gaststättengewerbe, Handel, Reinigung, Landwirtschaft, Sexgeschäft etc.) "Was wäre da klüger, als die illegale Einwanderung an der Wurzel zu packen und unsere Tore und Häfen für einen geregelten Zuzug, mit der Möglichkeit zur Integration und der Aussicht auf Staatsbürgerschaft zu öffnen?" schlussfolgert Schwelien.
Mit seriöser Aufklärung und leisen Tönen rückt der Auslandskorrespondent ein problematisches Thema ins öffentliche Bewusstsein. Seiner Publikation liegt vor allem das Unbehagen an der aktuellen Asyl- und Migrationpolitik zugrunde. Ängste, dass sich die Flüchtlingsdramen auch zukünftig vor unserer Haustür abspielen könnten, sind angesichts aktueller Verschärfungsvorschläge aus dem Hause Schily durchaus berechtigt. Statt Unsummen in die militärische Sicherung der Schengen-Grenzen und in nordafrikanische Flüchtlingsabfanglager zu investieren, macht sich Schwelien für eine besonnene und sachgerechte Auseinandersetzung der Zivilgesellschaft stark. Schließlich dürfen im Zeitalter von Globalisierung die Menschenrechte nicht über Bord gekippt werden.
Michael Schwelien: Das Boot ist voll - Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz. marebuchverlag, Hamburg 2004, 210 S, 14,90 EUR
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