Mit J.-M. G. Le Clézio hat ein Autor den Nobelpreis bekommen, der nicht Weltbürger, sondern Wanderer zwischen den Welten ist. Anders als der Weltbürger, der überall zu Hause ist, ist Le Clézio zwischen den Kulturen unterwegs. Schon biographisch bewegt er sich zwischen Nationen und Sprachen: Als Sohn eines englischen Vaters und einer französischen Mutter zweisprachig aufgewachsen, hat er die doppelte Bürde zweier Kolonialvölker getragen und einen Teil seiner Kindheit in Nigeria und Mauritius verbracht. Seine Biographie kann man als Chiffre für den Ort seines Schreibens lesen. Unterwegs ist Le Clézio zu einer neuen, lebendigen Sprache. Statt seinen Ursprung zu finden, statt in einer Sprache anzukommen, schildert er unendliche Reisen ins Exil. Das Thema seiner fast 30 Romane ist die Übersetzung - das Übersetzen aus anderen Kulturen in die europäische. Sein Werk spannt sich in diesem Unterwegssein zur Sprache zwischen zwei Mythen des alten Testaments, die für unser Sprachverständnis bestimmend geblieben sind: der Benennung der Schöpfung durch Adam und dem Turmbau zu Babel durch den Tyrannen Nebukadnezar.
Adam gibt in einer Art zweiten Schöpfung den Tieren Namen. Diese adamitische Namensgebung trifft die Schöpfung im Kern. Diese erste Sprache verstellt die Schöpfung nicht, sie ist in gewisser Weise genauso ursprünglich. Die Wörter als Namen sind intim mit dem Benannten verbunden. Die adamitische Sprache ist ein lebendiges Band und verbindet den Menschen mit der Natur sowie die Menschen untereinander, die in der Sprache zu einer Gemeinschaft werden. Diese Gemeinschaft nützen sie dann aus, um himmelstürmend dem Geheimnis Gottes auf die Spur zu kommen. Sie bauen einen Turm, der bis an den Himmel reichen soll. Die Zerstörung des Turmbaus zu Babel beendet den glücklichen adamitischen Zustand der Sprache: Gott verwirrt die eine Sprache der Menschen, damit diese sich nicht mehr verstehen, gemeinsam handeln und gegen ihn aufbegehren können und zerstreut sie über die ganze Welt. Die vielen verschiedenen Sprachen werden im babylonischen Mythos hier nicht im Sinne von cultural diversity als Segen, sondern als Fluch verstanden. Babel bedeutet Verwirrung, Entzweiung, Zwietracht zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Schöpfung. Der Turm, ursprünglich Symbol der Einheit des Volkes, wird in der Zerstörung Zeichen ihrer Diaspora. Die Geschichte von der Zerstörung des Turmbaus und der Zerstreuung des einen Volkes vollendet die Vertreibung aus dem Paradies. Die Sprache ist nur noch dazu da, Nichtverstehen mitzuteilen: Nichtverstehen der Menschen untereinander, Nichtverstehen der Natur.
Die Romane Le Clézios - aber nicht nur seine - nehmen von diesem babylonischen Ort ihren Ausgang. Man ist versucht, von einem Topos der französischen Literatur zu sprechen. Pfingsten als die Aufhebung und Erlösung von Babel hat in diesem Universum nicht stattgefunden. Aber während die Romane Flauberts, Nathalie Sarrautes und Claude Simons darauf aus waren, den Topos Babel, der anthropologisch als conditio humana verstanden wird, in der Lektüre erfahrbar zu machen und insofern enttäuschend Aufklärungsarbeit über den Stand der Dinge zu leisten, möchte Le Clézio daran etwas ändern. Er sucht eine Sprache, die das verlorene Paradies der adamitischen Verbundenheit heraufbeschwört. Und das ist nur möglich, weil - um im Bild Babels zu bleiben - die babylonische Sprachverwirrung in Le Clézios Perspektive nicht universell war. Der Mythos dient nicht zur Erklärung der conditio humana, sondern er wird historisiert. Nur die zivilisierte Welt befindet sich im heillosen, babylonischen Zustand; es gibt andere Teile der Welt, die von der Strafe kaum betroffen sind. Es sind Orte außerhalb der globalisierten Welt, die man früher einmal, zur Zeiten der Kolonisierung, als unzivilisiert beschrieben hat. Es sind Gegenden, die nicht wie Europa von einer Schriftkultur, sondern von einer oralen Kultur geprägt sind: Mauritius, wo kreolisch gesprochen wird, Marokko, in dem sich eine Vielzahl von Kulturen und Sprachen mischen, die indianischen Kulturen Mexikos. In diesen Kulturen ist das Verbindende zwischen Mensch und Schöpfung, zwischen Mann und Frau, das Band zwischen den Menschen noch nicht ganz zerrissen. Diese Sprachen sind noch nicht toter Buchstabe, leerer, nichtssagender Lärm, sondern lebendiges Wort. Die Stoßrichtung der Kolonisierung dreht Le Clézio um. Anders als es noch der Imperialismus eines Zola wollte, sollen der "Segen der Zivilisation" nicht in diese Länder gebracht werden. Le Clézio sieht die Übertragung der westlichen Werte eher als einen Fluch. Florence Nightingale, die Heilung verspricht und bereits in ihrem Namen an den berückenden Gesang der Nachtigall gemahnt, ist eine Ausnahme. Le Clézio bürstet das Narrativ der Kolonisation gegen den Strich. Von diesen Gegenden aus, die sich noch eine gewisse sinnliche Lebendigkeit der Sprache bewahrt haben, soll der verfallene Zustand der westlichen Sprachen, der zugleich ein Verfall der westlichen Zivilisation ist, wiederbelebt und so Gemeinschaft restauriert und der Bezug zwischen Mensch und Natur neu gestiftet werden. Es gilt, die lärmenden Worthülsen der westlichen Zivilisation wieder lebendig zu machen, die zerbrochene Kommunikation zu ermöglichen, die lebendige Unmittelbarkeit der ersten Sprache zurückzugewinnen. Insofern ist Le Clézios Werk procès verbal (1963), wie einer seiner ersten Romane hieß, Protokoll eines Zustands der Sprache, eines Zustands der Welt, dem es zu entrinnen gilt. Anklänge an die alttestamentarischen Mythen über die Verfallenheit der Sprache werden im Titel Désert roman (1980) deutlich. Die Wüste ist nicht nur geographische Gegebenheit, sondern allegorischer Ort, den das auserwählte Volk nach dem Verlassen der babylonischen Gefangenschaft durchqueren muss. Die Wüste wird Le Clézio zum Ort der Askese der Sprache, in der im Schweigen und im Licht das Eingebundensein der Menschen in die Natur aufscheint. Le Clézios Texten geht es darum, diese andere, lebendige Sprache wiederzugewinnen. Gleichzeitig wird in dieser neuen Sprache und Schrift das bewahrt, was sonst dem Vergessen anheimgegeben wäre: die Flüchtigkeit der oralen Kulturen.
Auch die "zivilisierten" Länder haben eine Praxis, in der dieses lebendige Band noch nicht ganz zerrissen ist - die Lyrik. Als Inbegriff dieser Suche nach dem neuen, alten, dem ursprünglichen Bedeuten der Wörter gilt dem Autor Le Clézio der wohl mythischste Dichter des 19. Jahrhunderts: Rimbaud, der in seiner Familiensaga Ein Ort fernab der Welt eine zentrale Rolle spielt.
Le Clézio sieht seine Texte als Versuch, lebendige Sprache zu schreiben: durch den Umgang mit Buchstaben, die zum Bild werden - einem Verbildlichen des Schweigens im Weiß der Seite, die etwa nur halb bedruckt wird - oder durch die Vielsprachigkeit, die nicht übersetzt wird oder durch das lautmalerische Nachahmen von Lauten. Durch Beschwörungsgesänge, in denen den Wörtern heilende Wirkung zugesprochen wird, durch Ritzungen von Symbolen in die menschliche Haut wird an andere Praktiken des Signifizierens erinnert. Babel wird dabei gewissermaßen gegen sich selbst gedreht. In der métissage, der Mischung der Sprachen, die unübersetzt nebeneinander stehen, erscheint die Sprache nicht als ein Eigentum, das man erworben hat. Die verschiedenen Sprachen und ihre Mischformen, die zum Hinhören zwingen, führt zu einem neuen Begreifen von Sprache und Welt. Die métissage des Kreolischen wird zu einer Sprache, die singt; in ihr mischt sich, was vorher getrennt war und jetzt zusammenklingt. Der Roman Onitsha erzählt von der Reise eines Kindes nach Onitsha, einem Land in Afrika, das es zu entdecken gilt. Es ist eine Reise zur Universalsprache, die sich in der Mischung von Italienisch, Französisch, Englisch und Pidgin ankündigt. Mit der neuen Sprache wird ein neues Leben erlernt. Die Universalsprache begründet eine offene Gesellschaft der Liebe, die nicht wie die europäische auf Missverständnis gegründet ist. "Die Wörter sprangen und tanzten in seinem Mund", heißt es in Onitsha. Es ist eine lebendige Sprache. Sie verstellt nicht, sondern erschließt und verbindet den Menschen mit andern und mit dem Geheimnis der Natur.
Solange Le Clézio in der Paradoxie verharrt, dem Roman und der Sprache entkommen zu wollen, indem er, unterwegs im Exil, Romane schreibt, ist alles gut. Problematisch wird es, wenn die Medialität der Sprache verleugnet und die Erfahrung einer Unmittelbarkeit sprachlich gefasst werden soll: vorzugsweise im exotischen wie erotischen sexuellen Akt, der als kosmische Hochzeit zwischen Himmel und Erde oder als Einklang des Menschen mit dem Universum beschrieben wird. Medium dieser materiellen Verzückung sind Orte fernab der Welt oder fremde Frauen mit sprechendem Namen wie Suryavati, die Tausend und einer Nacht entsprungen scheinen. Die Liebe dieser Frauen ist "glühend wie die Sonne, langsam und stark wie das Meer, wahr wie der Wind." Wenn man Le Clézio zu diesen Himmelshochzeiten nicht zu folgen vermag, mag das an unserem Eurozentrismus liegen, der, bis auf die Knochen skeptisch, so etwas für Kitsch hält. Skepsis aller Unmittelbarkeit gegenüber, wie sie in Himmelshochzeiten Fleisch wird, ist uns Europäern an der Wiege gesungen. Schon der Sex zwischen Dido und Aeneas in der Höhle, in der sich nicht nur die beiden Könige, von den Göttinnen getäuscht, vereinigten, sondern im Gewittern des Jupiters auch Himmel und Erde, war ja keinesfalls Zeichen kosmischer Harmonie, sondern, ganz babylonisch, schlicht Missverständnis und Verrat. Geradewegs führte diese Himmelshochzeit zum Selbstmord der Dido. Den Modernen wie den Postmodernen, die sich nolens volens im Gefallenen einrichten müssen, scheint der Mythos von Babel schlicht Erklärung der universellen conditio humana und kein historisch und geographisch beschränkter Sonderweg. Die Versprechungen Le Clézios einer lebendig sinnlichen Sprache, die die Menschen, die Geschlechter und alle zusammen unmittelbar mit der Natur verbindet, sind zu schön, um wahr zu sein.
Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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