Im Transitraum von Dubai versammeln sich große Familienverbände für den Flug nach Lahore, der Hauptstadt des Punjab in Pakistan, zumeist umgeben etliche junge Männer einen alten Mullah. Viele scheinen sich zu kennen, aber es gibt keine Frau, die außer mir auf den Abflug wartet.
Als wir gegen 23.30 Uhr starten, sitze ich allein in einer ganzen Reihe und wundere mich, bis mir klar wird, dass man mich schlecht neben einen muslimischen Mann setzten konnte. Bei der Ankunft in Lahore um drei Uhr morgens wird meine Whiskyflasche vom Zoll konfisziert - gegen Quittung, ich darf sie beim Rückflug wieder mitnehmen, alles ist sehr korrekt, und ich bin ein Fremdkörper.
Das Taxi fährt mich vom Airport durch eine leere Stadt zum Hotel, es ist dunstig warm und ein lei
warm und ein leichter Geruch nach Holz liegt in der Luft. Ich bin glücklich, allein nach Pakistan geflogen zu sein, um nach den Chuhas zu suchen.Unser westliches RasterAm nächsten Morgen kommt Naurin Ahmed Zaki, die Leiterin des Annemarie-Schimmel-Instituts, ins Hotel, um mich kennen zu lernen. Sie bringt Herrn Saleem mit, der mir bei meinen Recherchen behilflich sein soll. Naurin ist sehr liebenswürdig, wir sprechen deutsch, sie pflegt einen leichten Dortmunder Akzent. Ihre Kindheit im Ruhrpott hat Spuren hinterlassen. Nach dem Studium ist sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Pakistan zurückgekehrt.Stunden später sind wir gemeinsam auf einer Party, die Direktorin des National College of Art hat in ihr ansehnliches Haus geladen, und ich erlebe eine sehr aufgeschlossene Gesellschaft aus Künstlern, Filmleuten und Wissenschaftlern. Die Damen sind geschminkt, rauchen und scheinen ausgesprochen gebildet. Alle haben im Ausland studiert, sind natürlich verheiratet, haben gute Jobs. Ihre Ehen wurden von den Eltern arrangiert, das ist immer noch Norm und wird nicht angezweifelt. Genauso wie das Gebot, als Jungfrau in die Ehe zu gehen.Wie sich ansonsten zeigt, kollidieren meine bisherigen Vorstellungen der pakistanischen Gesellschaft mit der Realität. Ich ging davon aus, man müsse eine Burka tragen oder zumindest ein Kopftuch, die Idee löst bei den Gästen des Abends Gelächter aus. Unser westliches Raster erweist sich wieder einmal als Klischee. Sicher sind diese liberalen, aufgeklärten Leute aus der urbanen Mittelschicht eine Minderheit, doch in unseren Medien erleben wir Pakistan nur über die Chiffren Koranschulen, fanatisierte Mullahs, Gewalt und Unterdrückung. Es stellt sich die Frage, ob dieses einseitige Bild nicht beabsichtigt ist und das "zivilisierte" Milieu der College-Direktorin und ihrer Freunde bewusst unterschlagen wird, weil von diesem Teil der Gesellschaft keine negativen Sensationen zu erwarten sind.Eine promovierte pakistanische Psychiaterin erzählt mir während der Party, dass Carl Gustav Jung den Sufismus gekannt habe und viele seiner Vorstellungen deckungsgleich mit der sufistischen Tradition seien. Derart ein eingestimmt plane ich am nächsten Morgen mit Herrn Saleem, der als Christ in Pakistan einer religiösen Minderheit angehört, verschiedene Shrine von Sufi-Heiligen zu besuchen. Immer donnerstags ist Tag der Sufis, die Anhänger treffen sich an den Shrinen zum Dhamal, wie man die ekstatischen Tänze nennt, und um Qawwali zu hören, den mystischen Gesang, der von Tabla und Harmonium begleitet wird. Der Legende nach kommen an den Shrine des Sufi-Heiligen Shah Daulah in Gujrat vor allem Frauen, die einen starken Kinderwunsch haben.Zum Betteln auf die StraßeIn der Gegend um Gujrat tauchen auffallend viele Kinder mit Mikrozephalie auf - das bedeutet, sie haben einen sehr kleinen Kopf, der nicht gewachsen ist, sie sind dadurch geistig behindert und körperlich zurückgeblieben. Dieses Phänomen wird darauf zurückgeführt, dass den Betroffenen im Kindesalter ein Metallring oder eine Kappe aufgesetzt wurde, die den Kopf am Wachstum hinderte. Wen dieses Schicksal trifft, der wird Chuha genannt, was soviel wie Maus oder Ratte bedeutet. Chuhas treten häufig als Bettler in Erscheinung, veranlassen sie doch dank ihre Behinderung viele Passanten nicht einfach vorüber zu gehen. Da man die Chuhas verehrt und ihnen außergewöhnliche Kräfte zuschreibt, gibt ihnen fast jeder Geld. Die Chuhas werden regelrecht geschmückt, wenn man sie wegen einiger Almosen auf die Straße schickt.Ich bin nach Pakistan gekommen, um Chuhas zu finden und zu fotografieren. Von Menschen hervorgerufene Körperzeichen sind ein Phänomen, das mich in meiner Arbeit immer wieder beschäftigt. Ich habe Fotos mit Lotuslillies, der letzten Generation von Chinesinnen mit eingebundenen Füßen, aufgenommen. Also fahren wir an einem Donnerstag bei fürchterlichem Verkehr zu den Shrinen in Lahore, um bettelnde Chuhas zu finden, doch zunächst ohne Erfolg, trotz einer Odyssee durch 60 Kilometer dichten Smog. Ich sehe mein Projekt schon schwinden, vielleicht gibt es die Gesuchten gar nicht, und alles ist ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Später erzählt mir Herr Saleem, die Chuhas hätten mich wohl gespürt und seien deshalb fern geblieben. Am nächsten Morgen ruft er mich an, um mitzuteilen, dass mir Chuhas ins Hotel gebracht würden, damit ich sie dort gegen eine größere Summe in aller Ruhe fotografieren könne.Von diesem Augenblick an führen mir zwei Männer jeden Tag Chuhas unterschiedlichen Alters zu, zumeist grün angezogen - das ist die Farbe der Shrine - und mit Blumen geschmückt. Ich finde sofort Kontakt zu ihnen, wir verständigen uns über Zeichen, die jungen Mädchen haben Spaß am Posieren. In der Literatur wird ihnen immer große Aggressivität nachgesagt, ich kann nichts davon spüren.Die beiden Männer - wahrscheinlich Menschenhändler - sehen schweigend zu. Nach zehn Sitzungen kommen sie nicht wieder, das Projekt ist abgeschlossen, ohne dass ich über die nebulösen Mythen der Chuhas mehr erfahren hätte.Die Legende beschwört esWir fahren schließlich an den Shrine von Shah Daulah nach Gujrat, zwischen Lahore und Islamabad, auf einem beeindruckend neuen Highway und an prächtigen neuen Tankstellen vorbei, die wie Schönheitssalons aussehen, modern, großzügig und weltläufig zwischen einer archaischen Landschaft mit ihren Wasserbüffeln, Reisfeldern und Meilern, in denen Ziegelsteine gebrannt werden.In Gujrat werden meine männlichen Begleiter - Herr Saleem und der Fahrer - nervös. Mir wird klar, dass ich mich so weit draußen auf dem Lande eigentlich nicht aufhalten dürfte, denn in einer solchen Gegend gehen die Frauen nicht allein aus dem Haus, sie haben kaum Rechte, 90 Prozent sind Analphabetinnen. Eine allein durchreisende Ausländerin ist hier unvorstellbar. Wir gehen daher gleich zum Shrine von Shah Daulah, dem Sufi-Heiligen aus dem 16. Jahrhundert, der in der Bevölkerung hoch verehrt ist. Die Grabstätte ist ein großes, mit einer Kuppel versehenes, moscheenähnliches Gebäude mit einem offenen Innenhof, der einen Käfig mit Affen beherbergt. Hühner laufen herum, Blumenketten und Devotionalien werden angeboten. Vor dem Shrine sitzt eine junge Frau, eine Chuha, und sammelt Geld in einer Holzkiste. Von ihrer Mutter, so erfahre ich, wurde sie einst dem Shrine versprochen, damit weitere Kinder gesund geboren werden konnten. Die Legende beschwört, das erste, dem Shrine versprochene Kind sei immer eine Chuha. Werde das Versprechen nicht gehalten, kämen alle weiteren Kinder als Chuhas auf die Welt.Ich habe zwar inzwischen fotografieren können, aber noch keinen präzisen Hinweis erhalten, was genau geschieht, damit Menschen mit diesen kleinen Köpfe aufwachsen. In Gujrat findet sich niemand, mir das zu erzählen. Auch Herrn Saleem, dem es gelungen ist, die mutmaßlichen Menschenhändler ins Hotel zu lotsen, werden keinerlei Informationen zugespielt.Von MenschenhandWir haben die strikte Weisung, vor fünf Uhr nachmittags wieder in Lahore zu sein, nachts sind auch die Highways nicht sicher. Im Hotellift treffe ich einen Orthopäden, der bereits vor einigen Jahren an die Regierung geschrieben und verlangt hat, dass die Verstümmelung der Köpfe endlich ein Ende haben müssten - er bekam nie eine Antwort. Immerhin bestätigt er mir, dass es von Menschhand geschähe, aber mehr könne er mir nicht sagen. Ob der Shrine daran beteiligt ist, bleibt ein Geheimnis.Am Tag vor meiner Abreise fahre ich in die Altstadt von Lahore, um das "Fakirmuseum" zu besuchen. Ich bin sehr neugierig auf die Sammlung, doch es stellt sich heraus, dass es sich um keinen Hort der Fakirutensilien handelt, sondern der Besitzer Fakir heißt. Ich überspiele meine Enttäuschung, wir kommen ins Gespräch. Herr Fakir zeigt mir Miniaturen, die seine Vorväter zusammentrugen, alte Bücher, Tassen, Chinoiserien. Endlich fragt er mich, was ich denn in Lahore drei Wochen lang getan hätte. Ich erzähle ihm von meiner Verzweiflung, nicht erfahren zu haben, was ich wissen wollte. Herr Fakir, so zeigt sich, ist ein großer Verehrer von Shah Daulah und greift sofort zum Handy. Kurze Zeit später erscheint ein Freund aus Gujrat, und dieser Syed Mubashar Husain Shahed versichert mir glaubwürdig, der dortige Shrine nehme seit 30 Jahren keine Kinder mehr an. Es seien Banden von Bettlern und Menschenhändlern aus der Gegend um Gujrat, die aus reiner Geldgier Kinder raubten und verstümmelten, um Chuhas aus ihnen zu machen, über die sie verfügen könnten.Syed versichert mir nach einem Telefonat mit seiner Mutter in Gujrat, dass der Shrine damit nichts mehr zu tun habe. Kein genetischer Defekt, sondern Menschenwerk. Sollte ich wiederkommen, wolle er mir seine Mutter vorstellen, die ein Kind dem Shrine gegeben habe. Vielleicht würde ich dann mehr erfahren über die Menschen mit den kleinen Köpfen.Die Autorin ist bildende Künstlerin und lebt in München. Zuletzt erschien von ihr 2003 das Buch Lotuslillies.
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