Ob sie wirklich die Birgit Kühr sei, die in Angermünde die Montagsdemos organisiert, will der Mann am Telefon wissen. Erst nachdem er sich dessen sicher ist, schildert er sein Problem mit einem Ein-Euro-Job. Die Leute, die anrufen, sind misstrauisch, sie sind eingeschüchtert. Dass jemand ihnen Gutes will, glauben sie schon lange nicht mehr. Aber Birgit Kühr ist eine von ihnen, eine, der man vertrauen kann. Sie hat ein "offenes Telefon". Jeder kann anrufen und sich Rat holen. Denn wer sich wehren will, muss Bescheid wissen, und eine unabhängige Beratungsstelle gibt es nicht.
Als sie selbst ihren ALG-II-Antrag stellen musste, im August 2004, da kochte sie vor Wut. "Bei der Spalte für die Quadratmeterzahl war es aus bei mir. Die muss man ausfüllen, damit sie entscheiden können, ob die Wohnung angemessen ist. Da habe ich den Stift weggelegt, das Telefon genommen und bei der Polizei angerufen. Ich habe gefragt, was man machen muss, wenn man eine Demonstration anmelden will. Es war wie eine Reflexreaktion", erzählt sie, immer noch erstaunt über sich selbst. Mindestens einen Meter, sagt sie, ist sie seitdem innerlich gewachsen. "Ich wusste nichts. Ich habe noch nie vor vielen Menschen gesprochen. Ich kannte nur unsere Lokalzeitung, hatte noch nie einen Gesetzestext gelesen und hatte von Internet keine Ahnung."
Zur ersten Demonstration kamen 550 Leute. Überwältigend für das 9.000-Einwohner-Städtchen in der Uckermark, einem der Landkreise in Brandenburg, in dem die Arbeitslosenquote seit Jahren nahe 30 Prozent liegt. Seitdem hat Birgit Kühr 74 Demonstrationen und Kundgebungen veranstaltet, sie hat Kontakte geknüpft, Aktionen organisiert und unzählige offene Briefe an den Bürgermeister, den Landrat, an Abgeordnete, die Landes- und die Bundesregierung geschrieben. Auch wenn ihr immer noch das Herz in die Hosentasche rutscht, traut sie sich, öffentlich zu sprechen. Vor 15.000 Menschen hat sie im vergangenen November beim Sternmarsch in Berlin die Rede für das Brandenburger Bündnis gehalten, aber das Beste, sagt sie, war die Rede vor der Stadtverordnetenversammlung. Wochenlang hatte sie dafür gekämpft, dass Hartz IV auf die Tagesordnung kommt. Fünfzehn Minuten hat sie schließlich bekommen, um zu erläutern, wie es um die ALG-II-Empfänger in Angermünde bestellt ist.
Anfangs dachte sie, beflügelt vom eigenen Erfolg und den Nachrichten aus den anderen Städten, Hartz IV könne tatsächlich verhindert werden. "Dann kam das Gesetz, und die Bürger haben gesehen: Wir haben nichts erreicht."
Viele zogen sich zurück, andere wurden aktiver und organisierten sich. Aus den Montagsdemonstrationen bildete sich ein Bürgerbündnis zur Unterstützung von Birgit Kühr, denn sie bleibt die Hartnäckigste, die Kundschafterin, diejenige, die Dinge in die Hand nimmt und die nächsten Schritte tut. Die anderen gehen mit zu Bürgerfragestunden, zu Wahlkampfveranstaltungen, zu Gesprächen mit Behörden und Politikern. Es geht schon bald nicht mehr nur um Hartz IV, es geht um überhöhte Gaspreise, die Privatisierung des Krankenhauses, um eine Suppenküche und den Sozialpass, um eingesparte Buslinien, abgestellte Straßenbeleuchtung und die drohende Schließung der Polizeiwache. Die lokalen Medien lassen sie zu Wort kommen, und einzelne Politiker begreifen, dass Birgit Kühr für viele spricht. Es gibt kleine Erfolge.
Inzwischen ist aus dem Bündnis der Verein "Bürgergemeinschaft gegen Sozialabbau Angermünde" geworden, und Birgit Kühr ist Vorsitzende. Ein zentrales Vereinsziel ist "echte Bürgerbeteiligung". In Zukunft wollen sie sich nicht mehr auf Wahlen und Bürgerfragestunden beschränken lassen, sondern zu den nächsten Kommunalwahlen selbst antreten.
Der Verein hat elf Mitglieder, eine eigene Homepage und ist bundesweit vernetzt. "Wir waren noch nie so gut organisiert wie heute", sagt Birgit Kühr. "Aber die Bürger haben sich zurückgezogen. Man denkt immer, das ist jetzt das Schlimmste, dagegen müssen wir was machen, und dann kommt es noch schlimmer. Das macht die Leute kaputt. Jetzt sitzen sie wieder resigniert in ihren vier Wänden und fressen ihre Wut in sich hinein."
Anfang 2005 kamen noch 250 Leute zu den Demonstrationen. Ab da nahm die Zahl kontinuierlich ab. Immer wieder gab es Hinweise, dass Ein-Euro-Jobber durch die Maßnahmeträger eingeschüchtert und von den Demonstrationen ferngehalten wurden. Aber beweisen ließ sich das nicht, öffentlich darüber reden wollte niemand.
Im vergangenen Herbst rutschte die Teilnehmerzahl unter 30, und der Gewerkschafter, der Woche für Woche seinen Lautsprecherwagen zur Verfügung stellte, kam auch nicht mehr. "Das ist jetzt eine andere Art von Protest. Es gab immer nur wenige, die sich getraut haben, am Mikrofon etwas zu sagen. Jetzt, wo wir im kleinen Kreis sind, jetzt reden die Leute. Ich informiere erst über Aktuelles, und dann diskutieren wir. Immer noch auf dem Kleinen Markt, jeden ersten Montag im Monat, egal welches Wetter ist." Auch am 1. Mai gibt es wieder eine Kundgebung. "Wer weiß, vielleicht werden es wieder mehr", meint sie, denn Thema ist die nächste Verschärfung, das sogenannte Optimierungsgesetz, mit dem ab Sommer 1,2 Milliarden Euro bei den Langzeitarbeitslosen eingespart werden sollen, durch zusätzliche Kontrollen.
Birgit Kühr war 43 Jahre alt und seit zehn Jahren arbeitslos, als ihre Wut sie in die Politik trieb. Nach der Schule hatte sie bei der Eisenbahn gelernt. Später, als sie die Schichtarbeit gesundheitlich nicht mehr vertrug, putzte sie im Gewerkschaftshaus. Nach der Wende verlor sie die Stelle und machte sich mit einem Kioskstand am Bahnhof selbstständig, aber als die Großmärkte aus der Stadt zogen, musste sie, die kein Auto hatte, damit aufhören. Ihr Mann verlor seine Arbeit als Hausmeister, und beide lebten jahrelang von seiner Arbeitslosenhilfe und kleinen Jobs. Zur Zeit arbeitet sie in einer Maßnahme mit "Entgeldvariante", wie es im Bürokratendeutsch heißt.
Mit wenig Geld auskommen, daran hat sie sich gewöhnt, aber die Demütigungen will sie nicht hinnehmen. Für sie ist es ein Unding, dass Menschen für ein Taschengeld arbeiten und sich den Lebensunterhalt vom Staat erbetteln müssen, dass sie um Erlaubnis zu fragen haben, wenn sie wegfahren oder umziehen wollen, dass sie kein Recht auf Privatsphäre besitzen, kontrolliert, verwaltet, als Betrüger und Schmarotzer verdächtigt werden. "Die Würde wird einem genommen, das stört mich am meisten", sagt sie, "man wird ausgegrenzt, und es gibt keine Perspektive."
Aus der Lust zu Kämpfen, die sie vor nunmehr 20 Monaten entdeckte, sind zähe Ausdauer und Beharrlichkeit geworden. Heute wünscht sie sich vor allem zwei Dinge: dass die Leute wieder auf die Straße gehen und sich wehren und eine Arbeit, von der sie leben kann. Nach Tarif bezahlt.
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