Passage nach Europa

Migration aus Afrika In den Augen der EU gilt Marokko als sicheres Land, doch die Situation der Flüchtlinge dort ist verheerend

"Warum kommen die Europäer als Sextouristen nach Senegal, und wir können nicht nach Europa fahren, um dort zu arbeiten?" fragt ein senegalesischer Migrant die spanische Journalistin Helena Maleno in einem Briefwechsel, nachzulesen auf den Seiten des unabhängigen Nachrichtenportals Estrecho Indymedia. Im letzten Jahr hatte er versucht, über Marokko und Ceuta nach Europa zu gelangen, wurde abgeschoben und hat sich erneut auf den Weg gemacht, diesmal auf die gefährlichere Route Mauretanien-Kanarische Inseln. Seit mehr als drei Jahren ist er unterwegs nach Europa. "Dank meiner Misere und der von vielen anderen konnte sich eine korrupte Regierung wie die marokkanische die Taschen mit Geld füllen, und auch die Organisationen, die um Menschlichkeit für die armen Schwarzen bitten," schreibt er. "Und jetzt werden sich die Taschen der mauretanischen Regierung füllen. Wir müssen schnell machen, es ist ein Wettlauf mit der Zeit gegen diese neue EU-Politik."

Tag für Tag gibt es neue Rekordzahlen über Boatpeople, die auf den Kanaren anlanden. Sie erwecken den Eindruck, immer mehr Menschen aus Afrika wollten illegal nach Europa einreisen. Berichte und Bilder, die sich leicht instrumentalisieren lassen für die restriktive Migrationspolitik der EU. Tatsächlich finden aber hauptsächlich Verlagerungen statt. Der Weg über Nordafrika ist inzwischen weitgehend verschlossen. Marokko, geografisch das ideale Sprungbrett nach Europa, wurde letztes Jahr zur Sackgasse. Auf Druck Spaniens und der EU zerstörten marokkanische Sicherheitskräfte die Camps von Migranten und Flüchtlingen, die in den Wäldern Nordmarokkos auf eine Chance zur Weiterreise warteten, führten Razzien durch mit vielen Verhaftungen und Deportationen. Wer dem entgehen wollte, musste die letzte Gelegenheit nutzen. Gruppen von bis zu 500 Personen versuchten die meterhohen Grenzanlagen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu überwinden, um auf europäisches Territorium zu gelangen. Mindestens 14 verloren dabei ihr Leben.

Heute sind die Auffanglager in den beiden Städten fast leer. "In den marokkanischen Wäldern nahe der Grenzanlage steht an jeder Wasserquelle ein Soldat, den Dorfbewohnern drohen Strafen, wenn sie schwarzen Menschen Lebensmittel oder Wasser geben," berichtet José Palazón, Vorsitzender einer Menschenrechtsorganisation in Melilla. Die Razzien gehen weiter. Es wird scharf geschossen, wenn sich vermeintlich Illegale einer Verhaftung widersetzen, weiß Palazón von Ärzten aus dem marokkanischen Provinzkrankenhaus, in das Verletzte aus der Region gebracht werden, und das Internationale Rote Kreuz berichtet auch in diesem Jahr von Deportationen in vermintes mauretanisches Wüstengebiet.

Auch die Situation der wenigen hundert Flüchtlinge, die vom UNHCR anerkannt und mit Papieren ausgestattet sind, ist verheerend. Sie erhalten von den marokkanischen Behörden keine Aufenthaltspapiere und vom UNHCR keinerlei finanzielle Unterstützung. So sind sie meist obdachlos, haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und müssen betteln. Besonders Frauen mit Kindern sind der Willkür der marokkanischen Polizei ausgeliefert. Viele berichten von sexueller Gewalt und Zwangsprostitution. In diesem Sommer gab es mehrere verzweifelte Protestaktionen gegen die Unfähigkeit des UNHCR und die verweigerte Weiterreise nach Europa. Aber in Europa gilt Marokko als sicheres Fluchtland und vorbildlich in der Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle, wofür man im Gegenzug nicht nur finanzielle Unterstützung sondern auch Einreiseerleichterungen für marokkanische Staatsbürgerinnen und -bürger in Aussicht stellt.

Eine solche Zusammenarbeit mit allen afrikanischen Herkunft- und Transitländern ist das Ziel der EU-Politik. Die europäisch-afrikanische Migrationskonferenz, die als Reaktion auf den "Massenansturm" auf Ceuta und Melilla einberufen wurde, verabschiedete im Juli einen Aktionsplan. Er sieht unter anderem die Schaffung eines Migrations-Observatoriums zur Beobachtung der Wanderbewegungen vor sowie eine gemeinsame Datenbank, in der Angaben über Schleuser gespeichert werden sollen und die Fingerabdrücke von Migranten, bereits dann, wenn sie in Afrika aufgegriffen werden. Erst wenn die unerwünschte Migration eingedämmt sei, so die Position der EU-Politik, könnten legale Einreisemöglichkeiten, wie sie die afrikanischen Staaten fordern, geschaffen werden.

Dass die europäischen Technokratenträume in Afrika wahr werden können, bezweifelt Laurence Marfaing, Mitarbeiterin des Berliner Zentrums Moderner Orient. Sie hat in Mali Interviews geführt und stellt fest: "Wenn man kommunale Autoritäten mit dem Ansinnen der EU konfrontiert, wird man gar nicht verstanden. Was aus europäischer Sicht Schlepper sind, sind hier Transportunternehmen, die Abgaben zahlen, und dass jemandem die Aus- oder Durchreise verweigert werden soll, ist auch nicht vermittelbar. ›Warum soll jemand nicht reisen dürfen‹, werde ich gefragt, wenn ich sage, das sei aus Sicht der EU illegal."

Der größte Teil der illegalen Einreisen in die EU findet außerdem auf ganz anderen Wegen statt, per Flugzeug und mit gefälschten Papieren oder Touristenvisa. Die wenigsten davon sind Afrikaner und Afrikanerinnen aus den Ländern südlich der Sahara. Die statistische Realität steht in einem offensichtlichen Missverhältnis zu der politischen Geschäftigkeit, für die die Tragödie an den Zäunen und Küsten genutzt wird. Das Problem, so werden Demografen nicht müde zu warnen, werde in Zukunft erst richtig virulent. Youth bulge ist der Fachbegriff für den als bedrohlich empfundenen Jugendüberschuss des Nachbarkontinentes, und das daraus abgeleitete Szenario sind Massen arbeitsloser Jugendlicher, die die europäischen Grenzen überrennen.

"Ich hoffe, bald wegzukommen," schreibt der senegalesische Migrant an die spanische Journalistin. "Ich bin sehr nervös, da ich nicht schwimmen kann. Ich nehme an, dass Spanien nicht die Familien der Toten sucht, um sie in ihrer Erde zu begraben, und so denke ich, dass ich, wenn ich sterbe, auch nicht in Senegal beerdigt werde."


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