Mit einem Generalstreik in sechs Provinzen blockiert die konservative Opposition im Moment das Vorhaben von Präsident Morales, Bolivien eine neue Magna Charta zu geben. Ökonomisch steht das Land 20 Monate nach Amtsantritt des linken Präsidenten gut da, erhebliche Mehreinnahmen bescheren dem Staat mehr Handlungsspielraum.
Nie war in der Andenrepublik ein Mandat so klar und deutlich wie das für die Präsidentschaft von Evo Morales - denn eine Mehrheit der Bolivianer will den Wandel. Mit den sozialen Bewegungen, Bauern und Indigenen als politischem Rückgrat, unterstützt von Teilen der urbanen Unter- und Mittelschicht, scheint es nicht nur so, als könnte das Motto Bolivien ändert sich - Evo hält sein Versprechen! Wirklichkeit werden.
Als wichtigstes ökonomisches Projekt gilt für den Staatschef die Industrialisierung des agrarisch geprägten Landes. Finanzieren will er das durch die Einnahmen aus dem vor einem Jahr verstaatlichten Gas- und Ölsektor: Noch 2003 verließen beim Energietransfer pro erwirtschaftetem Dollar 75 Cent das Land. Heute ist das Verhältnis umgekehrt. Mit den Nachbarn Argentinien und Brasilien handelte man neue Konditionen für den Gas-Export aus, die Vorgängerregierungen hatten zu Preisen unter Weltmarktniveau geliefert.
Erstmals seit 34 Jahren verbucht der Staat in seinem Haushalt einen Überschuss, die Gas- und Ölrendite dürfte 2007 bei zwei Milliarden Dollar liegen - gegenüber 300 Millionen im Jahr 2005. Auf diese Weise eroberte die Regierung des Movimiento al Socialismo (MAS) dem - durch neoliberale Experimente arg geschrumpften - Staat neue Spielräume. Sie investierte unmittelbar in soziale Projekte wie ein jährliches Schüler-Stipendium und in die öffentliche Infrastruktur oder ins unterentwickelte Straßennetz. Vizepräsident Álvaro García Linera wagt die optimistische Prognose, der bolivianische Staat werde 2008 mindestens 30 Prozent des nationalen Bruttosozialproduktes kontrollieren.
Auch die von der Opposition gleich zu Beginn der Amtsübernahme durch Morales heraufbeschworene Kapitalflucht blieb aus - erstmals in der nationalen Wirtschaftsgeschichte überschritten die zugesagten Investitionen im devisenträchtigen Energie- und Bergbausektor die Drei-Milliarden-Dollar-Grenze. Morales´ Vorgänger de Lozada hatte trotz radikaler Marktöffnung und Privatisierung sämtlicher Staatsfirmen lediglich Investitionen in Höhe von 1,3 Milliarden anwerben können.
Allein die indische Jindal Steel Power garantiert für die kommenden acht Jahre Investitionen über 2,1 Milliarden US-Dollar und wird dafür das weltweit größte Eisenerzvorkommen bei der Mine El Mutún ausbeuten. Dort entstehen rund 16.000 Arbeitsplätze, das erste Stahlwerk Boliviens wird gebaut.
Strategischer Partner Nr. 1 freilich bleibt Venezuela, das den Wandel des "bolivarianischen Bruderlandes" (Hugo Chávez) ausdrücklich unterstützt. Gemeinsam gründete man die Petroandina S.A., eine Aktiengesellschaft der beiden staatlichen Energieunternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) und Petroléo de Venezuela S.A. (PdVSA) - Bolivien hält 60 Prozent der Aktien, Venezuela 40 Prozent. Das Unternehmen soll neue Ölvorkommen erschließen, wofür Caracas vorerst 600 Millionen US-Dollar zuschießt.
Unter Morales pflegt die Andenrepublik andere Beziehungen zur Außenwelt. "Bolivien geht nicht mehr betteln", sagt García Linera. Und der Präsident ergänzt: "Wir wollen Partner - keine Chefs". Man garantiere die von Investoren verlangte Rechtssicherheit - jedoch nur, wenn sich die Gegenseite an nationales Recht halte.
Heftig umstritten bleibt das zweite "strategische" Vorhaben der Regierung, dem Land eine neue Verfassung zu geben. Über Monate gelang es der Opposition, den eigens gewählten Konvent in zeitaufwändige Debatten über den Abstimmungsmodus zu verstricken. Ursprünglich hätte die neue Magna Charta am 2. August vorliegen sollen, jetzt peilt man den 14. Dezember an. Selbst ihre Zustimmung zu diesem Termin ließ sich die Opposition versüßen: Der MAS billigte so genannte "departamentale Autonomien", die den Provinzen mehr Autarkie verschaffen.
Beistand leisten Morales nach wie vor die starken sozialen Bewegungen. Viele ihrer Protagonisten bekleiden inzwischen Regierungsämter, so dass die Basis direkt Einfluss nehmen kann. Forderungen nach indigener Selbstverwaltung, der Verpflichtung des Eigentums auf seine soziale Funktion und nach neuen Formen direkter Demokratie wollen die Bewegungen auf jeden Fall in der neuen Verfassung verankert sehen.
Jüngst riefen sie zum Marsch nach Sucre, um den dort tagenden Konvent gegen Angriffe der Opposition zu schützen. Immer wieder waren in den vergangenen Monaten Wahlmänner des MAS beschimpft und angegriffen worden. Sie entstammen meist der indigenen Bevölkerungsmehrheit und geraten ins Visier eines in Bolivien latent vorhandenen Rassismus. Am westlichen Lebensstil orientierten Schichten der Bevölkerung gilt alles Indigene als minderwertig. Daher wollen bis zu 100.000 Bauern und Indigene dafür sorgen, dass "keine Fliege es mehr wagt, einen der unsrigen zu beleidigen", wie Vizepräsident Alvaro García Linera vehement versichert.
Der erbitterte Widerstand der zusehends aggressiver agierenden Opposition unterstreicht, wie bedeutsam die neue Verfassung für die Zukunft des Landes ist. Würde sie scheitern, erlitte Bolivien ein mehrere Jahrzehnte währendes "kollektives soziales Trauma", meint der Filmemacher Alfonso Gumucio-Dagron. Die Hoffnungen auf ein Leben in Würde seien seit dem Antritt von Morales einfach zu groß, als dass sich ein derartiger Rückschlag verkraften ließe.
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