Warten auf welches Europa?

Heilsbringer Eine fotografische Entdeckungsreise von Frank Gaudlitz belegt, mit welcher Inbrunst die Menschen in Südosteuropa auf die Europäische Union hoffen

Drei Jahre lang war der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz unterwegs auf seinen Reisen entlang den Ufern der Donau, und durchquerte dabei all die geographischen und kulturellen Räume, die dem durchschnittlichen Westeuropäer heute wahrscheinlich immer noch wie ein unbeschriebenes Blatt scheinen. Wem ist schon wirklich das zwischen dem heutigen Rumänien, Ungarn und Serbien gelegene Banat geläufig, einem über die Jahrhunderte von unzähligen Völkerschaften bewohntes Siedlungsgebiet: Schwaben, Hessen und Österreicher, Sinti und Roma, Rumänen, Serben, Juden, Magyaren, Montenegriner, Türken und Russen lebten hier. Ebenso viele Herrscher übten die Macht im Lande aus: orthodoxe Serben, muslimische Osmanen, katholische Habsburger, faschistische Deutsche und atheistische Kommunisten - ein wahres Sinnbild der ethnischen Vielfalt der gesamten Donauregion und dessen bewegter Vergangenheit. Als hier nun Anfang der Neunziger Jahre ein jähes Machtvakuum entstand, stieß das Staatenbündnis der Europäischen Union, vermittels "Osterweiterung" in die vom Kommunismus hinterlassene Lücke vor. 2004 traten Tschechien, Ungarn und Slowakei der EU bei, am 1. Januar folgten Bulgarien und Rumänien.

Den reisenden Fotografen Gaudlitz, der Anfang der neunziger Jahre schon den Abzug der Sowjetarmee aus Deutschland dokumentierte, reizt der Blick auf den einfachen Menschen im Alltag, auf der Straße, beim Arbeiten oder zu Hause. Wie auch beim deutschen Porträtisten August Sander, der in seinem epochalen Werk Menschen des 20. Jahrhunderts eine Typologie der Gesellschaft der Weimarer Republik und seiner Schichten zu erstellen suchte, lassen Gaudlitz Bilder einen unmittelbaren Rückschluss auf den sozialen Stand der Abgelichteten zu. Anspruch auf typologische Vollständigkeit wird nicht erhoben, demnach waren die Fotografierten ausschließlich spontane Zufallsbegegnungen, so geschehen vor allem im ländlich geprägten Umfeld des Donauverlaufes. Gaudlitz traf sie in Braila in Rumänien, in Silbas in Serbien, Ruban in der Slowakei. Sie heißen Császár, Goranov oder Bosanski.

Was erhoffen sich die abgebildeten ernsten Kinder, schmutzigen Bauern, adretten Angestellten und weißgewandeten Ärzte von diesem ominösen "Europa"? Aufschluss geben die mit Farbtechnik erstellten Einzel- und Doppelporträts, - immer leicht von unten aufgenommen mit dem Stativ und den ganzen Körper von Kopf bis Fuß zeigend - nicht. Sie wahren die respektvolle Distanz vor dem lebenden Objekt, das auf diese Art und Weise für nicht viel mehr als für sich selbst spricht. Wäre da nicht der Titel: "Warten auf Europa".

Doch auf was warten diese Menschen? Warten sie tatsächlich, oder unterstellt nur das Motto der Fotoserie diese Form der Passivität? Gaudlitz hat der Porträtserie zahlreiche handschriftliche Notizen zur Seite gestellt. Im Labor hat er die Antworten abfotografiert, die die Betroffenen auf seine Frage nach ihren persönlichen Hoffnungen und Erwartungen an das kommende "Europa" in ihrer Landessprache abgaben. Doch wie passt der neutrale "Blick des beobachtenden Außenstehenden", so Gaudlitz über seine Rolle, mit den die Interpretation des Bildmaterials in eine auffallend EU-freundliche Richtung lenkenden Texten zusammen? Es fällt schon auf, das die Befragten die EU ungebrochen als zivilisatorisch-fortschrittliches Projekt sehen: "Ich will mein Leben so einrichten, wie ich es will, nicht so, wie andere es wollen." Die EU bringt den ehemals kommunistisch Regierten demnach die Selbstbestimmung. "Ich will mit einem Schiff um die Welt segeln." Die EU bringt den damals hinterm "Eisernen Vorhang" Eingesperrten also die Reisefreiheit. "Sehr erfolgreich, reich und schön möchte ich sein. Später möchte ich Politiker werden oder Koch oder Kellner." Die Freiheit der Berufswahl soll auch noch garantiert sein. Und natürlich dürfen auch die Rechte der Frauen auf Selbstverwirklichung, auch im Glauben nicht fehlen: "Ich möchte eine Geschäftsfrau werden und selbstbewusst sein. Ich möchte meinen Gefühlen folgen können und eine harmonische Familie haben. Ich möchte mein Studium erfolgreich abschließen, Gott lieben und an ihn glauben." Die Versprechen des Neoliberalismus scheinen zu wirken.

Selbstverständlich warten diese Menschen auf den Heilsbringer EU, nur so kann man den Ausstellungstitel Warten auf Europa nach dieser Wunschzettellektüre verstehen. Und im Vorwort des 2006 vom "Deutschen Kulturforum Östliches Europa" herausgebrachten, gleichnamigen Fotobandes bläst der Historiker Karl Schlögel euphorisch und seltsam euro-nationalistisch in das gleiche Horn. "Europas Erbe, seine Stabilität, seine Leistungsfähigkeit, sein Selbstbewusstsein, seine Souveränität, seine Fähigkeit zur Selbstverteidigung und zur Allianz ›mit allen Menschen guten Willens‹" seien "unter dem Druck der Konkurrenz" gefragt, um sich dann moralisch rückzuversichern mit dem Hinweis, Europa "definierte sich positiv, nicht durch ein Gegenbild - sei es die USA oder der Islam." Die negativen Auswirkungen des neoliberalen Ausverkaufs der durch die "Osterweiterung" übernommenen Volkswirtschaften oder die Militarisierung der EU erwähnt Schlögel nicht. Stattdessen schwärmt er sozialromantisch von den innereuropäischen Arbeitsmigranten als den "wahren Helden Europas", sie hätten das neue Europa gebaut. Deren Lebenswirklichkeiten ausblendend entwirft er den "Gesamt-Europäer", der in Harvard Station machen werde, neben dem Englischen noch eine zweite Sprache erlernen werde, so dass am glücklichen Ende "alle um das Zentrum der transatlantischen Zivilisation" kreisen.

Trotz allem, die Bilder von Frank Gaudlitz sprechen eine andere, eigene Sprache, sie behalten ihre Stärke. Authentisch, wie sie sind, entziehen sie sich jeglicher Politisierung. Und so erinnern die starr im Bild stehenden Gestalten eher an die Figuren aus Samuel Becketts Warten auf Godot: Auf der Suche nach ihrer Existenz können sie das Voranschreiten der Zeit doch nicht verhindern.

Warten auf Europa. Begegnungen an der Donau. Kunstraum im Waschhaus Potsdam. Noch bis zum 21. Januar 2007. Katalog, hrsg. vom Deutschen Kulturforum 2006, 196 S., 19,80 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden