Ich hätte wundervolle Hände

Kehrseite "Ich hätte wundervolle Hände. Glaubst du nicht auch? Schau mal, meine Füße. Die Zehen. Und die Beine. Jetzt guck doch mal." ...

"Ich hätte wundervolle Hände. Glaubst du nicht auch? Schau mal, meine Füße. Die Zehen. Und die Beine. Jetzt guck doch mal."

Kathrin lässt sich auf den Rücken plumpsen und streckt ihre Beine kerzengerade in die Luft, sodass ihr das Kleid bis zum Schlüpfer hochrutscht.

Die Passanten starren. Sie rührt mit den Füßen in der Luft herum.

"Und, wie findest du?"

"Ganz okay."

Kathrin blitzt mich mit schmalen Augen an.

"Ganz okay? Das sind die besten Beine, die du überhaupt je gesehen hast. Willst mal anfassen?"

Sie hat Recht, sie hat schöne Beine. Schöne, lange, sandbraune Beine. Braun, weil sie sie den ganzen Tag zeigt, hier an der Straßenecke, und die Passanten um Geld angeht. Diese Beine würde jeder gern anfassen. Ich auch. Aber ich ekle mich vor ihren Armstümpfen. Die immer hochschnellen wie Flipperhebel, um die Träger ihres Kleides hochzuschieben oder weil sie mit ihren Phantomhänden auf etwas zeigt. Ich verstehe einfach nicht, wie man nie Hände haben konnte und trotzdem ständig auf alles zeigen muss.

Sie hat es sich hübsch gemacht hier an der Straßenecke. Auf einem blumenbestickten Deckchen steht ein geflochtener Korb, an dem ein Schild lehnt. "Ich habe Hunger" steht darauf in schnörkelig verschlungener Mädchenschrift.

Ich frage nicht, ob sie das mit ihren Füßen oder dem Mund geschrieben hat. Wenn man Behinderte im Fernsehen sieht, ist das ja immer ein einziger Zoo: "Guck mal, wie arm die dran sind. Aber guck mal jetzt, was die trotzdem können. Guck mal, wie toll die ihr Leben im Griff haben, diese Krüppel."

Meine Mutter rückt die Dinge an ihren Platz.

Sie wäscht die Häkelgardinen im Schongang, wischt die Fensterbänke - den Staub von der Fensterbank in das Tuch in den Eimer in den Ausguss - und sorgt dafür, dass die Porzellangänse danach wieder exakt in dieselbe Richtung schauen, stupst den Handtuchstapel auf Kante, wischt den Besteckkasten aus, tauscht die Löffel mit den Messern und wieder zurück und noch mal zurück.

Die Wohnung riecht nicht nach mir, nicht nach ihr. Die Wohnung riecht nach Putzmitteln.

Meine Mutter wischt meine Schreibtischschublade aus. Sortiert einen Teppich aus Blei- und Buntstiften, Kulis und Filzern, nach Größe und Farbe geordnet, wieder hinein. Meine Schreibtischschublade klemmt. Öffnet man sie, egal wie vorsichtig, werden alle Stifte wieder durcheinandergeworfen. Vielleicht passiert das aber auch schon beim Schließen der Schublade, direkt nach dem Sortieren. So oder so. Die Stifte lassen sich nicht an ihren Platz rücken.

Meine Mutter rückt die Dinge an ihren Platz.

Sie stürmt in mein Zimmer. Wenn ich im Wohnzimmer bin und fernsehe, wenn ich auf dem Bett liege und Comics lese, wenn ich nicht im Haus bin oder wenn wir gemeinsam beim Abendbrot sitzen. Meine Mutter stürmt mit einem kleinen Eimer Wasser und einem Lappen in mein Zimmer, rammt mir die Schublade in den Bauch, während ich die Hausaufgaben mache. Sie wischt die Schublade aus, sortiert die Stifte nach Farbe, Größe, Art. Und schließt die Schublade, dass es einen leisen Ruck macht.

Ich benutze die Stifte in der Schublade nicht mehr. Ich öffne die Schublade nicht mehr. Meine Mutter öffnet sie. Wischt sie aus, sortiert die Stifte und schließt sie wieder. Sie versprüht Sagrotan im Bad, wenn ich auf Klo war, sie zieht medizinische Gummihandschuhe aus einem Pappspender über, bevor sie staubsaugt, sie saugt Staub, wischt den Boden und saugt noch einmal Staub, meine Mutter trägt die Gummihandschuhe, wenn sie mir einen Teller mit Broten macht.

Wenn das Wetter gut ist, gehe ich ins Boutiquenviertel, um das Mädchen mit den Armstümpfen zu beobachten. Es ist immer da, wenn die Sonne scheint, sitzt immer an derselben Straßenecke und sieht fröhlich aus. Viele Leute grüßt es mit Namen und manche stecken ihm einen Schein in den geflochtenen Korb.

Ich schiebe mich immer durch die Menge auf der anderen Straßenseite und tue so, als ob ich die Auslagen in den Schaufenstern ansehe. In Wirklichkeit spiegelt sich das Mädchen in der Scheibe und ich sehe ihm zu, wie es dasitzt und lächelt und für sein Lächeln Geld bekommt. Für sein Lächeln und seine Beine und die Armstümpfe. Dann gehe ich über die Straße und gehe ganz dicht an ihr vorbei, werfe ihr ein Geldstück in den Korb und lasse mich im Vorbeigehen anlächeln.

Heute werfe ich das Geld in den Korb, schaue ein wenig zu ihr runter, um mein Lächeln zu kassieren und liege plötzlich auf dem Bürgersteig. Das Mädchen lacht. Sie hat mir ein Bein gestellt. Sie lacht laut und ihre beiden Flipperstümpfe hebeln wild durch die Luft. Dann sagt sie: "Ich bin Kathrin. Wie heißt du?"

Wir sitzen auf der Bank vor einem asiatischen Schnellimbiss. In einer weißen Plastiktüte zwischen uns liegen das Körbchen, das Schild und das Deckchen. Wir essen Nudelsuppen und schauen rüber zu ein paar Hunden auf der anderen Straßenseite, feuern sie an, wenn es ihnen gelingt, mit ihren Zähnen etwas aus den blauen Müllsäcken zu zerren. Mit Stäbchen schaufle ich Nudeln aus der Schüssel. Kathrin hält ihre Schale mit beiden Stümpfen und fixiert sie, indem sie das Porzellan gegen ihre Unterlippe drückt. Immer, wenn sie etwas zu den Hunden rüberruft, schwappt ein wenig Suppe über ihr Kinn, das Kleid und auf den Bürgersteig. Als wir aufgegessen haben, wischt sie sich mit ihrer Schulter über das Gesicht, ihr Kleid ist voll mit fettigen Suppenschlieren.

"Hast du Lust, mit zu mir nach Hause zu kommen?"

"Ich denke, du bist eine Pennerin? Die haben doch kein Zuhause."

"Komm mit, du Trottel."

Einige Schlösser klicken, bevor sich die Wohnungstür nach innen öffnet.

"Hallo, Schatz, wo bist du so lange gewesen?"

"Hallo, Mama. Unterwegs."

"Ja ja, verstehe. Die alte Dame soll nicht alles wissen. Wer ist denn dein Freund?"

"Das ist Benjamin. Sag schon hallo zu meiner Mutter, Benjamin."

"Hallo."

"Grüß dich, Benjamin. Du kannst mich Barbara nennen. Ich mache gerade Essen für Georg, soll ich was für euch mitmachen?"

"Nee, danke, Mama, wir haben schon gegessen."

Kathrins Mutter hat Hände.

Kathrin führt mich durch die große, helle Wohnung zu ihrem Zimmer. Vorbei an einem Flügel, Wänden voller Bücher, schweren Eichenvitrinen. Sie schließt hinter uns die Tür.

"Wollt ihr vielleicht ein paar Kekse?", ruft Kathrins Mutter uns hinterher.

"Nein danke, Mama. Wir kommen schon klar. Tja, das hier ist mein Zimmer. Du kannst dich ruhig setzen."

Kathrin hat ein großes Zimmer mit einem Computer und Regalen voller Bücher. Auf dem Fußboden, der Fensterbank, den Bücherregalen, dem Schreibtisch - überall liegen Armkonstruktionen wie Cyborgersatzteile mit langen Lederschlaufen und Schnallen, um sie an einem weichen Körper zu befestigen. Kathrins Körper.

"Ich benutze die Dinger nie. Ich fühle mich dann wie behindert. Aber mein Vater schleppt ständig neue an. Und irgendwie mag ich sie dann auch nicht wegwerfen. Ein bisschen wie in einem Ersatzteillager, wie?"

Ich kann nichts sagen. Ich hocke auf der weichen Bettkante in dem Zimmer eines Mädchens und gaffe auf ihr Dutzend Arme, unfähig, einen Satz rauszubringen. Es gibt komplizierte, mit Roboterfingern und schwarzen Schläuchen, praktische, bei denen man Aufsätze am Ende der Konstruktion auswechseln kann, und unbewegliche, hautfarbene, mit schlanken Plastikhänden.

"Willst du sehen, wie gleichgroß meine Brüste sind?"

Kathrin setzt sich zu mir auf das Bett.

"Schau doch mal her. Siehst du? Absolut gleichgroß. Ich habe mal gelesen, dass viele Frauen ganz unterschiedlich große Brüste haben. Willst du sie mal anfassen? Komm schon, sie sind ganz warm und weich."

Ich sollte raus hier. Ich ekle mich vor Kathrin. Wie sie die Träger ihres suppenfleckigen Kleides über die Schultern rutschen lässt. Ich glaube, dass sie schöne Brüste hat und dass es schön wäre, sie anzufassen. Aber ich kann nicht hinsehen. Es ist pervers. Direkt neben den Brüsten wackeln diese grässlichen Stümpfe, die einen in die Träume verfolgen können. Kathrin ist gar kein richtiger Mensch. Menschen müssen einen Ball fangen, mit Messer und Gabel essen oder eine Einkaufstasche tragen können. Kathrin ist eine schlechte Kopie von richtigen Menschen. Kathrin ist nicht richtig. Und ich überlege, wie es wäre, jetzt zu gehen, an den Büchern, dem Flügel und Mutter Barbara vorbei raus aus der Haustür und nach Hause zu kommen zu meiner Gummihandschuhmutter und in mein Gummihandschuhmutterzimmer und bleibe sitzen.

Kathrin stupst mir ihren Stumpf in den Bauch. Und ein bisschen fühlt er sich an wie eine Hundenase. Dann beugt sie sich vor und gibt mir einen Zungenkuss.

Benjamin Maack, geboren 1978, lebt und arbeitet in Hamburg. 2004 wurde sein Gedichtband Du bist es nicht, Coca Cola ist es bei Minimal Trash Art, Hamburg, verlegt. Jetzt erschienen seine Erzählungen Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland im gleichen Verlag. Daraus stammt dieser Text.


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