Die jetzige SPD-Führung habe nahezu alle bewährten Konzepte über Bord geworfen und sie nicht durch neue Ideen ersetzt, hatte Albrecht Müller im Freitag 26/07 bei einer vergleichenden Analyse politischer Grundsatzerklärungen von Kurt Beck und Oskar Lafontaine beklagt. Da sich die SPD als "hilfsloses Anhängsel von interessegeleiteten Parolen" darstelle, werde sie nicht mehr als "eigenständige Kraft" wahrgenommen. Müller erinnerte an die sozialpolitischen Leistungen der Sozialdemokratie in den siebziger Jahren, während die heutige SPD-Spitze im Verein mit Konservativen und Neoliberalen einen "einigermaßen verlässlichen Sozialstaat" offenbar für einen Fehler halte. Er vermisse, so der Autor, bei Parteichef Beck "jede Alternative zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik", wie sie einst von der SPD unter dem Label "Globalsteuerung" vertreten wurde.
Der frühere Juso-Vorsitzende Benjamin Mikfeld antwortet Albrecht Müller, der seinerseits im Freitag der nächsten Woche auf die an ihn gerichteten Vorwürfe eingehen wird.
Kant ist tot. Und die anderen großen deutschen Aufklärer leben auch längst nicht mehr. Seit einigen Jahren schickt sich jemand an, diese Lücke zu füllen: Albrecht Müller, in den Siebzigern Leiter der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, will unser Land aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Mit Büchern, die so aufklärerische Titel wie Die Reformlüge und Machtwahn tragen, legt er die Machenschaften unserer "mittelmäßigen Führungselite" - so Müller - gnadenlos offen.
In einem Aufsatz im Freitag 26 vom 29. Juni verteidigt Müller die Rede Oskar Lafontaines auf dem Gründungsparteitag der Linken. Lafontaines Rede, so Müller, sei "geprägt von sozialdemokratischem Geist, einigen guten Ideen und vom Geist des Grundgesetzes". Gerade die Aussage Lafontaines, die "Systemfrage" stellen zu wollen, haben konservative Kommentatoren zum Anlass genommen, die Verfassungstreue der neuen Partei in Frage zu stellen. Hier hat Albrecht Müller Recht. Ein Bruch mit den Prinzipien des Grundgesetzes ist weder bei Lafontaine noch der großen Mehrheit der Linken erkennbar. Was hat Lafontaine auch Schlimmes gefordert? Zum Beispiel: Keine Auslandseinsätze der Bundeswehr. Oder auch: Zurück zu Staatsmonopolen in netzgebundenen Wirtschaftszweigen. Na, klingelt´s? Die besondere Ironie der Vorwürfe aus dem bürgerlichen Lager besteht darin, dass Oskar Lafontaines Wunsch nach einer Wiederherstellung des Helmut-Kohl-Deutschlands aus der Zeit vor 1989 als mit dem Grundgesetz unvereinbar skandalisiert wird.
Dass sich Müller in Lafontaines Retro-Rhetorik wiederentdecken kann, verwundert jedoch nicht. Auch in seinen Büchern ist die vermeintlich heile Welt der siebziger Jahre der politische und emotionale Bezugspunkt. Er hält den Umbau des Sozialstaates für unnötig und falsch. Er will zurück in eine Zeit ohne private TV-Sender, weil da die Menschen intelligenter gewesen seien (da freut sich die Arbeiterklasse aber!). Und er beruft sich darauf, dass die keynesianische Globalsteuerung in den Siebzigern doch prima funktioniert habe, und das heute auch klappe.
Die Abkehr von alldem beklagt Müller an der SPD, die seine eigene Partei ist. Im Freitag-Beitrag bemängelt er, dass sie keine wirtschaftspolitische Alternative zur herrschenden angebotsorientierten Politik im Sinne der von Karl Schiller realisierten Globalsteuerung mehr vertrete. Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Bedingungen für nationalstaatliche Gestaltung der Geld-, Fiskal- und auch der Lohnpolitik in den vergangenen 30 Jahren gravierend verändert haben, weicht Müller einer entscheidenden Frage aus.
Warum denn eigentlich ist die historische Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg - Ironie des Schicksals: zu Beginn des Müllerschen Engagements bei Brandt und Schmidt im Bundeskanzleramt - an ihr Ende geraten? In der Phase von 1951 bis 1973 konnte Deutschland Wachstumsraten von im Schnitt knapp sechs Prozent vorweisen. Während Müllers Zeit 1973 bis 1982 lag der Schnitt nur bei knapp 1,7. 1982 lag die Arbeitslosenquote bei 7,5 Prozent, in den sechziger Jahren meist deutlich unter zwei Prozent. Schuld war keineswegs nur die Ölkrise.
Der fordistisch wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus war damals offenkundig nicht in der Lage, die politischen Weichen in Richtung einer neuen Phase ökonomischer Prosperität zu stellen. International war dies Mitte der Siebziger freilich kein Einzelfall. Warum aber sollen die wirtschaftspolitischen Rezepte jener Jahre heute uneingeschränkt Gültigkeit haben, wenn sie sich damals als nicht hinreichend erwiesen?
Eine häufig zu vernehmende Antwort lautet: der Neoliberalismus war schuld. In der Tat brauchte der Kapitalismus zu jener Zeit eine neue Offensive für fortschreitende Landnahme im Sinne einer Erschließung nicht kapitalistischen Terrains - und der Neoliberalismus war die passende Ideologie. Doch auch hier sei die Frage gestattet: Warum kam es denn dazu? Was ist Ursache, und was ist Wirkung? So besserwisserisch Vordenker der keynesianisch orientierten Linken der siebziger Jahre heute auftreten, so sehr haben sie eine selbstkritische Analyse über das Ende der Wachstumskonstellation und den Verlust der Meinungsführerschaft an den Neoliberalismus (symbolisiert zum Beispiel durch das Lambsdorff-Papier von 1982) vermissen lassen. Und warum sind denn große Teile der Eliten neoliberal geprägt? War das wirklich "Gehirnwäsche", wie manche behaupten? Oder ist es dem flexiblen und vernetzten Kapitalismus der Neunziger nicht viel eher als der Fordismus fixierten Linken gelungen, postmaterialistische Ansprüche wie Individualität und Autonomie aufzugreifen und clever in sein System zu integrieren?
Das bedeutet nicht, dass Müller nicht in vielem, was er in den zurückliegenden Jahren zum Thema gemacht hat, einen wahren Kern trifft: Ja, die makroökonomische Debatte in Deutschland befindet sich auf einem intellektuell und politisch oft unzureichenden Niveau - und zwar in allen politischen Lagern. Ja, die Einkommens- und Vermögensverteilung ist sozial ungerecht und ökonomisch falsch. Ja, es gibt eine wirtschaftsliberale Meinungsmaschinerie, die gezielt Deutungen und Personen platziert. Ja, der politische Diskurs in unserem Land ist merkwürdig verengt und verklemmt.
Doch anstatt diese Kritik nach vorn zu wenden, bedienen Müller, Lafontaine und einige andere eine sozialkonservative Strömung, die sich als Gegenbewegung zur vermeintlichen Vorherrschaft neoliberalen Denkens versteht, aber inzwischen fast jede Veränderung als neoliberal qualifiziert. Die Wiederauferstehung einer solchen vergangenheitsfixierten "Zombielinken" ist nicht die Lösung der Krise der Linken in Deutschland, sondern ihr Ausdruck. Ihr entscheidendes Defizit ist eine unzureichende Kapitalismus- und Gesellschaftsanalyse und somit die Unfähigkeit, die Ambivalenzen des Wandels herauszuarbeiten, da sie jeden ökonomischen und kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte per se als Produkt einer ideologischen Offensive interpretiert. Die Herausbildung einer finanzmarktgetriebenen Wirtschaftsweise, der verschärfte internationale Wettbewerb, die digitale Revolution, kurzfristigere Innovationszyklen, der Wandel der Erwerbsarbeit, die demografische Entwicklung - auf all das hat die "Zombielinke" kaum brauchbare Antworten. Eine zukunftsfähige Linke im Jahr 2007 muss für ihre politischen Programme und Strategien jedoch den gegenwärtigen Kapitalismus, mit all seinen Fehlern und Vorzügen ebenso wie die gegebenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse als Ausgangspunkt nehmen.
Gehen wir noch mal auf Albrecht Müllers Vorwurf ein, dass die SPD der angebotsorientierten Politik keine Politik der Globalsteuerung entgegensetze. Dass die Nachfrageseite im Konjunkturzyklus von der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik seit 1998 phasenweise zu sehr vernachlässigt worden ist, bemängeln zu Recht auch renommierte internationale Ökonomen. Zu einseitig wurde im Sinne eines neuen Merkantilismus auf die Kostenentlastung des Exportsektors zu Lasten des Binnenmarktes gesetzt. Aber die Frage ist doch nicht, ob die Linke eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik betreibt, sondern welche. Nicht nur die nachfrageseitige Auslastung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials, sondern auch seine Steigerung durch technologischen Fortschritt, Bildung, Wissen und nicht zuletzt öffentliche Investitionen muss Thema linker Wirtschaftspolitik sein. Oder anders formuliert: die Linke darf sich nicht allein auf Verteilungsfragen beschränken, sondern muss die Entfaltung der Produktivkräfte - durchaus auch im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit - zum Thema machen. Eine Umsetzung des Slogans der IG Metall ("besser statt billiger") setzt eben im internationalen Wettbewerb nicht nur eine hohe Nachfrage voraus, sondern auch eine angebotsorientierte Wachstums- und Innovationsstrategie. Eine linke Idee von technologischem Fortschritt und gestalteter Produktivkraftentwicklung ist im Übrigen nicht nur ökonomisch erforderlich, sondern auch politisch.
Die "Zombielinke" macht die Verunsicherung vor allem in älteren Bevölkerungsgruppen zum Thema und versucht damit, eine Lücke der politischen Repräsentation zu schließen. Aber sie baut dieses Sicherheitsversprechen nicht in ein politisches Modernisierungsprogramm, sondern in ein Rolle-Rückwärts-Programm ein. Gesellschaftlich bündnisfähig gegenüber der technischen Intelligenz, modernen Angestellten oder auch Selbstständigen wird sie damit nicht.
Ob das gewollt ist, ist sowieso fraglich. Da zu vermuten ist, dass Leute wie Müller und Lafontaine differenzierter denken, als sie reden und schreiben, stellt sich die Frage der politischen Motivation. Aus welchen Gründen auch immer geht es ihnen darum, der SPD des frühen 21. Jahrhunderts vorzuwerfen, dass sie nicht mehr die SPD des späten 20. Jahrhunderts ist. Jürgen Habermas hat vor einigen Monaten den Idealtypus des Intellektuellen beschrieben, der "wichtige Themen aufspürt, fruchtbare Thesen aufstellt und das Spektrum der einschlägigen Argumente erweitert, um das beklagenswerte Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern". Die Argumente der "Zombielinken" erweitern aber nicht das Spektrum, sondern blockieren die Chance, die Debatte aus alten Schützengräben heraus auf ein neues Niveau zu heben. Letztlich erschweren sie mit ihren (zu) einfachen Antworten die Chance einer wirklichen Erneuerung der politischen Linken in Deutschland.
"Es ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen", erklärte Kant das Scheitern aufklärerischer Bemühungen.
Benjamin Mikfeld studierte an der Universität Bochum Sozialwissenschaften. Er war von 1999 bis 2001 als direkter Nachfolger von Andrea Nahles (1995-1998) Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, augenblicklich arbeitet er als Leiter der Abteilung Planung und Kommunikation beim SPD-Parteivorstand in Berlin, dessen Mitglied er seit 1995 ist. Mikfeld ist Mitherausgeber der Zeitschrift spw.
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