Ich bin elf Jahre alt, ständig mit Märchen und Geschichten von früher und ganz früher beschäftigt." Ricarda Bethke, heute 62 Jahre Jahre alt, hat sich für den autobiographischen Roman Die anders rote Fahne noch einmal mit ganz früher beschäftigt. Sie erinnert ein blasses kleines Mädchen in einem thüringischen Dorf, das zu einem blassen grossen Mädchen wird, und von dem sie nicht müde wird zu erzählen, wie wenig man die "grosse Dürre" mit dem flachen Busen und den Brillengläsern dazugehören lassen wollte. Nicht im Internatsschlafraum und nicht bei den Pionieren, nicht in der Tanzstunde und irgendwie auch nicht richtig in die Familie, wo sie statt einer drei Mütter hat, aber keinen Vater und keine Geschwiste
e Geschwister.Wer ist dieses Kind, diese junge Frau? Als ihre Mutter, erschrocken über einen neuen Zug an der Heranwachsenden, sie einmal schlägt; als ein Onkel ihr das Ausleben ihrer kreativen Talente missgönnt, lautet in beiden Fällen der Kommentar des gescholtenen Mädchens gleich: Sie tut mir leid. Er tat mir leid. Immer wieder verwundert die leidenschaftslose Abgeklärtheit dieses `alten Kindes`. Neben Pflichtbewusstsein steht eine grosse Indifferenz. In grosser Ausführlichkeit werden die grossen und kleinen Alltagsdinge erzählt, ob der plötzliche Wegzug der Klavierlehrerin oder ein amerikanischer Verehrer der Mutter, die bevorzugte Apfelsaftsorte oder die Farbe der "Russenkittel", wie Perlen an der Kette reiht sich Detail an Detail, Anekdote an Anekdote, Familienstreits, die Entfaltung des "roten" Grossvaters nach dem Krieg, die vielen wechselnden Freunde, es wird viel "sortiert" und definiert, und wenn es dennoch seltsam schwierig bleibt, ein lebendiges Bild von diesem Kind und seiner Zeit zu gewinnen, dann liegt das an einem inhärenten Widerspruch:Ricarda Bethke wendet sich dem Kind, das sie einmal war, ausgiebig einerseits - und mit überraschend wenig Zuwendung andererseits zu, so dass die Lektüre sich mühsam gestaltet und die Frage provoziert, wieso man sich für ein Kind interessieren soll, das seine Autorin-Mutter selbst gar nicht interessant findet. Vielleicht, denkt man, geht es ihr um Genauigkeit und darum, nichts in der Erinnerung zu fälschen oder gar schön zu färben? Was aber entsteht, ist ein streng-unterkühltes, protokollartiges Erzählen, das in seiner Detaillastigkeit wie eine Fleißarbeit wirkt mit der obersten Devise, nur nichts zu vergessen. Was fehlt, ist die Farbe echter Subjektivität, ohne die das Erzählen so blass bleibt wie das Kind selbst.Was ist Autobiographie, und unter welchen Bedingungen kann sie gelingen? In gewissem Sinne scheint Ricarda Bethke dem Irrtum zu erliegen, dass es die Menge der in dieser Summe versammelten Einzelheiten sei, die ein zurückliegendes Leben reich erscheinen lassen. Zu einer Autobiographie kann aber erst werden, was die Anekdotensammlung von einem privaten Erinnerungsalbum unterscheidet, nämlich der aus der Distanz selektierende, resümierende, klärende und auch wertende Blick. Bethke aber versagt sich nahezu vollständig die Kommentierung des Vergangenen und erzählt, als hätte sie sich einer Unmöglichkeit wie dem "objektiven Standpunkt" verschrieben. Wo, fragt man sich, ist ihr Interesse, - für sich selbst und dann für ein Publikum - jenes Leben, das sie erzählt, transparent werden zu lassen in seinem Verlauf, es zu verstehen und verständlich zu machen? Wo ist der Mut, Unglück Unglück zu nennen und Stellung zu einer erinnerten Einsamkeit zu nehmen, die im Rückblick anders souverän betrachtet werden könnte (und müsste)?Im zweiten Teil geht es dann um die junge Frau, die Kunst- und Germanistik in Berlin studiert. Sie ist fasziniert von Schönheit, die sie aber - wie schon als Kind - immer an anderen wahrnimmt, als Gegensatz zu sich selbst; immer sind die Körper, das Talent der andern dem ihren überlegen, immer sind diese Menschen irgendwie unerreichbar. Der Standpunkt der Bewunderung aus der Ferne führt erzählerisch leider zu einer verschwommenen Figurenzeichnung. Die verehrten Mitstudenten Hans und Alexander bleiben vage und im Bewusstsein der Leserin ebensowenig haften wie die zahlreichen bewunderten Freundinnen und Mitschülerinnen, die Candidas Weg begleiten und die zwar mit zwei, drei Sätzen als Typ umrissen werden, ohne aber dass sie Teil einer Geschichte würden. Vom Künstlerischen Praktikum im Braunkohlegebiet Knappenrode wird erzählt, wo neben zeichnerischen Fingerübungen das handfeste Zupacken in der Produktion gefragt ist; vom Uni-Sommerlager auf Hiddensee, von den Begegnungen an der Universität: Zuviel wird knapp angerissen und schnell wieder verlassen. "Ein ganz junger Herr Doktor macht mir noch viel Spass. Er tanzt fast diese Philosophie, den dialektischen Materialismus. Der Raum ist hässlich und nüchtern, aber er steht da in hellen Schuhchen, in seinem taillierten Anzüglein, lockig, leicht und beweglich vor der Tafel. Hochsächsisch diesmal." Dann das immer eigenständigere Leben in Berlin, ein Verehrer, dem gegenüber sie indifferent bleibt: "Und überhaupt da und im Cafe und überall auf dem Ku'damm denke ich: ÂIhr Bourgeois ihr, ihr verblödeten Kriegsgewinnler. Direkt sage ich es nicht, aber ich bleibe unbeeindruckt vom Ku'damm. Siegfried verwirrt das. Ich hebe den zerzausten Kopf in den kalten Wind und laufe im schäbigen Mäntelchen abweisend neben ihm her, der mit seinem Trenchcoat, weissem Hemd und Schlips ganz dazugehört." Das ist 1961. Das Angebot der Westverwandten, nach Frankfurt/Main zur Ausbildung zu kommen, hat sie abgelehnt; von den politischen Aktivitäten der Ostfreunde hält sie ebenso Abstand. Der Mauerbau berührt nicht. Mehr als eine klare Haltung für oder gegen etwas behält Candida eine Attitude der Vorsicht und Abwehr bei, gepaart zugleich mit dieser stets ungestillten Sehnsucht nach dem Dazugehören und dem Erwähltwerden. In dieser Halbherzigkeit schließt das Buch: Hans, der sein verlorenes Gretchen liebt, hat sich - warum auch immer - mit Candida zusammengetan...Auch in einer Autobiographie kann die Authentizität des Erzählten und dessen "gründliches Sortieren" jenen inneren Zusammenhang nicht ersetzen, ohne den kein Roman auskommt. Autobiographie heißt (auch), die Brücke, die eine baut von Gestern nach Heute, begehbar zu machen. Bei Bethke aber heißt Autobiographie eher: Ich-Fixierung statt gelungener Subjektivität. Dabei wäre es nicht darum gegangen, die Unsicherheit und Unklarheit der jungen Candida in etwas anderes umzudichten, sehr wohl aber darum, sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Wirklichkeit ausführlich zu reflektieren statt sie nur detailreich aufzuzählen.Ricarda Bethke: Die anders rote Fahne. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001, 284 S., 39,90. DM
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