Ich bin immer ein fröhlicher und offener Typ gewesen - vielleicht zu offen? Jedenfalls immer zum Leben entschlossen. Vielleicht ungeduldig. Wenn ich was wollte, musste es sofort passieren; Haare abschneiden, mein Zimmer umräumen, ein Bild malen. Aber es ist mir gut gegangen. Dann wurde der Sport sehr aufwendig. Ich bekam einen neuen Trainer. Montags rief ich immer bei ihm an: Was soll ich diese Woche trainieren? Dann haben wir etwas vereinbart, uns meist drei- oder viermal gesehen.
Kurz nachdem ich bei ihm angefangen hatte, musste er mir zeigen, wie man die Plättchen an den Pedalen auswechselt. Er sagte: Komm, wir trainieren ein bisschen mehr. Er hat mich eingeladen, mit zu ihm nachhause zu gehen. Als ich mich verabschiedete, versuchte er, mir einen Zungenkuss zu geben. Ich w
ben. Ich wehrte mich, und er sagte zu mir: Du musst mir immer sagen, wenn ich zu weit gehe. Als ich dann draußen am Tor stand, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich dachte, das kann nicht wahr sein, und versuchte mir immer wieder einzureden, nein, in Wirklichkeit ist er ganz anders. Er kann sehr gut zuhören. Und er hat so eine Art, dass alle Leute das Gefühl haben, den brauchen wir, der ist super. Aber irgendwie wird man eingewickelt und merkt gar nicht mehr, was passiert.Damals war ich fünfzehn. Wahrscheinlich hätte ich in dieser Zeit einen Freund gebraucht. Aber ich hatte ja gar keine Zeit, ich trainierte damals für die Nationalmannschaft und hatte nicht einmal mehr Zeit für eine gute Freundin. Mittwochs, wenn die anderen Mädchen zum Einkaufen nach W. gingen und über Jungs sprachen, war ich nie dabei. Wahrscheinlich hat es mir eben doch gefehlt. Alles ist immer mehr ins Düstere gegangen. Er wurde dann mehr und mehr zu meiner Vertrauensperson.In dieser Zeit damals hat sich eine Freundin von mir umgebracht. Ich weiß noch, nach der Beerdigung ging ich ins Training, und es ging mir ziemlich schlecht. An diesem Tag habe ich nicht gelacht. Es ist übrigens gar nicht gut, wenn man immer fröhlich ist. Dann denken die anderen, es geht dir nur gut. Er hat gemerkt, dass etwas nicht stimmte und fragte nach. Ich weinte, und dann bot er mir an, mich nachhause zu bringen. Am Abend rief er dann nochmals bei mir an und sagte: Was deine Freundin getan hat, tu sowas nicht, hörst du?Ich habe mich verstanden gefühlt, und so war es dann immer wieder: Er gewann mein Vertrauen zurück. Gleichzeitig wusste ich nie, wie nah er mir diesmal kommen würde. Er gab mir Klapse auf den Po, oder nahm mir die Sonnenbrille ab, um mir in die Augen zu schauen. Nach dem Radeln bot er mir an, er würde mir bei sich zuhause die Beine massieren, und dann fand er plötzlich, er könnte mich bis zur Hüfte anfassen. Oder er nutzte Momente aus, wo ich irgendwo stand und an nichts dachte, und dann kam er und küsste mich auf den Mund. Wir schrieben einander viel, und manchmal macht es mir Angst, dass er meine Briefe hat. In meinem Kalender habe ich Namen und Telefonnummer durchgestrichen - aber mit den Briefen ist ja noch etwas von meiner Zuneigung bei ihm. Für mich war er einfach ein guter Kumpel. Diese Art von Zuneigung hat er mir nicht gelassen, sondern wollte etwas anderes erzwingen.Er sprach auch davon, dass alles, was zwischen uns liefe, 100-prozentig bei ihm bliebe - jeder habe seine Geheimnisse - und er erwarte dies auch von mir. Er wohnt mit seiner Freundin zusammen, und wenn sie dann nachhause kam und ich war da, sagte er zu ihr: Oh, da haben wir gerade noch Zeit gehabt, uns anzuziehen, und das sollte dann ein Witz sein. Diese anzüglichen Bemerkungen kamen sowieso ständig, aber ich habe immer alles eingestampft, heruntergedrückt, bis es verdrängt war und ich wieder glauben konnte, dass er es in Wirklichkeit nur gut mit mir meint. Manche Dinge konnte ich fast nicht vergessen; wenn er sagte, ich bräuchte keine Angst haben, von ihm könnte ich sowieso nicht schwanger werden - das war ja wirklich kein Spaß mehr, sondern ein eindeutiges Angebot, und ich konnte mir kaum mehr einreden, dass es nicht so schlimm ist. Ich konnte in meinem Gefühl immer klar unterscheiden, ob ein Klaps freundschaftlich ist oder anzüglich. Aber mit ihm ging alle Klarheit weg. Irgendwie habe ich ja vertraut und irgendwie doch nicht, und das gleichzeitig.Ich habe dann ständig über all das nachgegrübelt, mein Kopf war zum Platzen voll, und ich habe mir nie richtig Luft gemacht. Wie ein Dampfkochtopf, der wahnsinnig unter Druck steht. Manchmal habe ich mir gewünscht, es soll jetzt einfach im Kopf von meinen Eltern drin sein, aber ohne dass ich etwas sagen muss. Es war unvorstellbar, etwas zu sagen. In dieser Situation habe ich angefangen, plötzlich sehr viel zu essen und dann wieder zu erbrechen. Ich wollte nur noch loswerden, was zuviel war - alles war zuviel. Dann habe ich im Spital gearbeitet und Tabletten gesammelt. Ich hatte schlimme Hautausschläge und konnte nicht mehr schlafen, und dann kamen so Gedanken wie: Warum soll ich denn weiter da sein? Ich bin ja sowieso für niemanden wirklich wichtig. Alle denken, ja, der juckt halt die Haut ein bisschen, aber was alles unter der Haut saß, hat niemand mitbekommen.Es ist, als ob es mich zweimal gäbe; eine ist die Kräftige, Fröhliche, und die andere ist ganz dünn, wie durchsichtig, und sie hat keine Widerstände und keine Kraft, irgendetwas abzuwehren. Alles geht grad ins Herz rein. Wenn ich so bin, dann denke ich an Selbstmord. Vor einem Jahr ist alles eskaliert. Ich konnte wegen der Ausschläge ein Praktikum nicht mehr fortsetzen, und dann hatte ich plötzlich Zeit zum Nachdenken. Zuhause war ich gereizt, nein, eigentlich eben gar nicht gereizt, sondern nur wahnsinnig verletzt. Es macht mich noch heute verrückt, daran zu denken, wie meine Mutter sagte: Du bist so gereizt! Aber vielleicht war es andererseits auch gut, denn irgendwie geriet ich so unter Druck, dass ich ihr etwas erzählte. Sie schickte mich zu einer Psychologin und seither ist mir klar, was die ganzen Jahre gelaufen war. Es war, als hätte ich damals an einem Punkt gestanden, wo, sagen wir, drei Wege möglich gewesen wären. Und er packt mich und setzt mich auf einen vierten, den es für mich aber gar nicht gibt. Er hat mich in was hineingezwungen und mir die Chance genommen, einen Weg zu wählen.Ein paar Monate vorher war ich mit meinem Freund zusammengekommen. Er merkte, dass ich immer fortlief, wenn über Essen geredet wurde, und einmal lief er mir nach aufs WC, und dann habe ich ihm von den Problemen mit dem Essen erzählt und nach Stunden auch von den Übergriffen des Trainers. Er ist wunderbar und wirklich für mich da. Aber ich konnte oft keine Nähe ertragen und musste mich immer abgrenzen und habe oft gedacht, das schaff ich nie. Zum Glück konnte ich mit ihm auch über diese Selbstmordgedanken sprechen, und er sagte: Wie wäre es denn für dich, wenn ich gehen würde? Ich sagte: Dann komm doch mit. Und eigentlich bleibe ich nur wegen dir da. Aber seit er da ist, ist alles auch viel besser geworden. Ich bin nicht mehr allein mit den Gefühlen, mich schämen zu müssen und schuldig zu sein. Langsam geht auch das Gefühl weg, mich immer wehren zu müssen. Mit jedem Mal, wenn ich die Geschichte erzähle, bröckelt etwas von dem Klumpen neben meinem Herzen weg, und er wird leichter.Seit ich mit der Psychologin arbeite, treffe ich den Trainer nicht mehr. Vorbei ist es dennoch nicht ganz, glaube ich. Neulich sah ich ihn auf der Straße, und er hat kurz »Hoi« gesagt, und es hat mich geekelt und gegraust, und gleichzeitig, wenn ich ein Telefon dabei gehabt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich doch angerufen. Aber ich habe ein riesiges Bedürfnis, das alles raus aus meinem Leben zu kriegen. Ich habe einen Brief an den Vorstand meines Clubs geschrieben, aber der Präsident hat ihn nicht an die anderen weitergegeben. Er hat zweimal mit mir geredet, und will, dass es nicht weiter an die Öffentlichkeit dringt. Es kommt mir vor, als wollte er die Sache unter dem Teppich halten. Wahrscheinlich ist sich niemand klar darüber, was mir angetan wurde.Oft ist mir gewesen, als hätte jemand ein schwarzes Tuch über mich geworfen und unten den Knopf zugemacht. Inzwischen kann ich wenigstens nach dem Knopf suchen, wenn dies Gefühl wiederkommt. In den letzten Jahren war der Trainer der einzige, der mir manchmal half, den Knopf zu finden und das Tuch zu lösen. Aber gleichzeitig hat er den Knopf ja überhaupt erst gemacht. Das ist das Verrückte.P. ist jetzt 20 Jahre alt. Über fast vier Jahre erstreckte sich das ungleiche Verhältnis. Nachdem P. in Kontakt mit der Therapeutin war, forderte sie den Trainer per Brief auf, Stellung zu seinem Verhalten zu nehmen. Das hat er bis heute nicht getan.Vom Präsidenten des Clubs mit den Vorwürfen konfrontiert, trat er als Trainer zurück, ohne Gründe anzugeben. An den Vorwürfen der von ihm trainierten Athletin sei ganz sicher nichts dran, kommentiert der über 50-jährige, und wenn man ihn mit irgendetwas belasten wolle, dann »müsse er schon auch mit ihren Briefen aufwarten«.Der Präsident des Clubs gab den Brief, in dem die Athletin den gesamten Vorstand über das Verhalten des Trainers informieren wollte, nicht weiter. Dazu befragt, gab er an, niemand könne sich vorstellen, wie sehr diese Geschichte dem guten Ruf des Clubs schaden könne. Im übrigen müsse man vorsichtig mit der Interpretation so eines Briefes sein, und letztlich handele es sich ja um eine Privatsache. Wörtlich: »Jetzt hat sie doch erreicht, was sie wollte; jetzt soll sie den Club in Ruhe lassen. Es ist ihr ja nichts passiert, und außerdem: bei solchen Sachen ist nie einer allein schuld.«
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