Das Bild ist unscharf. Was der Mann auf seinen Knien hält, ist mit einem weißen Tuch verhüllt. Zwei Kinderbeine schauen darunter hervor. Der Mann sieht direkt in die Kamera, ein hässliches Grinsen, das dem Betrachter mitteilt: Du weißt, was ich meine.
Manchmal ist die Botschaft eines Bildes so deutlich, dass weder Verdeckung noch Unschärfe etwas offen lassen. Man schaut weg und wieder hin und fängt an, sich vorzustellen, in wessen Kameraauge hinein der Mann seinen perversen Sieg wohl mitteilt, auf welches Bündnis er sich da verlässt.
Andrej Minajew - ehemals sowjetischer Militär und heute als Videoproduzent tätig - ist eine der Schlüsselfiguren im gewaltigen Netzwerk der Pädophilen im Internet. Man weiß schon eine Menge, w
hon eine Menge, wenn man das Bild, - ich sah es in der Zeitung Corriere della Sera - betrachtet, den Rest erzählen die Worte. Im dazu gehörigen Artikel wird von einer zweijährigen Untersuchung berichtet, während derer die italienische Polizei eine Unzahl von Websites fand, die Kinder in schlimmster Not zeigen. Es wird auch auf die ausführlicheren Videos verwiesen, die man per Internet bestellen kann: Kinder zu sexuellen Akten gezwungen, gefoltert, schreiend, sterbend. »Garantiert mir, dass sie wirklich sterben«, hatte jemand an die e-mail-Adresse geschrieben; einer vielleicht der (zunächst elf, letztlich sechs) in Italien Festgenommenen, denen Bestellung und Empfang der Kassetten nachgewiesen werden konnte. Oder einer der 1.700 Verdächtigen, die regelmäßig die Internet-Seiten genutzt haben sollen. - »Nie sah ich so grausame Bilder«, sagt einer der leitenden Polizisten in Torre Annunziata, dem Gerichtsort der Untersuchung.»Wir sind immer noch am Anfang«, klagt Don Fortunato Di Noto, Pfarrer aus Avila in Sizilien, dessen Organisation Telefono Arcobaleno die Untersuchung zu verdanken ist. Seit fünf Jahren sind Di Noto und seine Frau Anna Maria Pioppo mit 40 Freiwilligen daran, aus den verschlüsselten Tiefen des Worldwide Web das ans Licht zu fördern, was die Menschenwürde in kaum noch zu übertreffender Weise verhöhnt: die »Versklavung von Kindern«, wie Di Noto es nennt. 24.000 Websites hat die Gruppe bislang finden können.Einer der Freiwilligen von Arcobaleno war vor zwei Jahren im Netz auf die unmissverständliche Einladung gestoßen: »Kind, statt nur zu lernen, wie die Eltern es wollen, sei frei und lerne fliegen wie Peter Pan ...«. Inzwischen weiß man von jenem Haus in Moskau, in dem aus Waisenhäusern und Parks geraubte Kinder den »Direktflug in die Hölle« antreten mussten. Hier wurde ein großer Teil der Videos gedreht. Aber woher kommen die Kinder - wer sind sie? Ein italienisches Lied im Hintergrund und ein T-Shirt-Aufdruck haben die Polizei in Torre Annunziata schon fürchten lassen, auch italienische Kinder seien beteiligt. Wäre dann dies (eher unwahrscheinliche) Faktum der Skandal? Oder ist es die Tatsache, dass sowohl Minajew wie auch die »Nummer 1 der Organisation«, Victor Dmitri Kuznezow, auf freiem Fuß sind? Kuznezow hat aus der russischen Ferne zu verstehen gegeben, wie ernst er die italienische Untersuchung nimmt: Just am Tag, als in Italien die Videokäufer verhaftet wurden, trat der bekannte Moskauer Geschäftsmann mit einer neuen Pädophilie-Seite im Netz auf, diesmal gratis, und statt unter dem Namen Russian Flower 2 jetzt unter Lucky Video. Es braucht nicht viel Phantasie, um lucky - auf italienisch fortunato - als höhnische Anspielung auf Don Fortunato und einen der beiden Untersuchungsleiter mit Namen Fortuna zu lesen.Die Macht der Bilder. Einen Tag später füllen wieder Männerköpfe die Seiten zwei und drei der großen Tageszeitungen, nicht unscharf, nicht anstößig, dafür in stolzer Menge. Es handelt sich um die beiden Fernsehdirektoren der linken Sender »Tg1« und »Tg3«, die am Vortag einzelne Szenen aus dem Internet-Horror in ihren Nachrichten gezeigt hatten. Daneben finden sich die Köpfe der politischen Prominenz Italiens, die sich zum »Fernsehskandal« äußert. »Man denke, dies wäre auf ÂTg5Â passiert. Was hätte die Linke gemacht?«, tönt Silvio Berlusconi. Staatschef Giuliano Amato stellt sich vor, seine kleine Nichte hätte diese Bilder gesehen und bekommt bei der Vorstellung Lust, auf den Schuldigen zu schießen.Wie aus einem Mund tönt die Forderung der Politiker nach Rücktritt der Fernsehdirektoren. Moment mal - die Schuldigen? Wer waren noch einmal die Schuldigen? Da gerät einiges durcheinander. Und die Opfer, wer sind noch einmal die Opfer? Die Nichte von Herrn Amato? Geht die Macht der Bilder so weit, dass die Vorstellungskraft sich nur noch mit der Wirkung von ein paar Fernsehminuten befasst? Hat sich Giuliano Amato denn auch vorgestellt, seine Nichte wäre in einem Park in die Hände eines Videokillers geraten? Wozu hätten Sie dann Lust gehabt, Herr Amato?Wer der Macht der Bilder erliegt, weiß jetzt wieder ganz genau, wie die leitenden Köpfe der Politik- und Medienszene Italiens aussehen. Einer der Fernsehdirektoren ist zurückgetreten (er hatte es ohnehin vor), der andere ist im Amt geblieben ... Kurz nach den 20-Uhr-Nachrichten warte ich auf andere Bilder. Auf einem der Privatsender läuft der Vorspann eines Films. Während die Namen über den Schirm laufen, fährt die Kamera über einen nackten Babykörper und um ihn herum, unter Aussparung des Köpfchens, fährt zwischen die kleinen Beine, bis auf dem Bildschirm nur die Vagina des Säuglings zu sehen ist, recht und links die kleinen Beine. Ich staune, der Vorspann ist lang, Sand rieselt auf die weiche Haut, eine Hand fährt zwischen die Falten des Körpers - ich habe genug gesehen.
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