Wenn das Rattern fehlt, ist es kein Film mehr

Kinokultur in der Provinz Überlebensstrategien eines Einzelkämpfers

Am nordwestlichen Rand des Bodensees liegt die Arbeitslosigkeit bei glücklichen 4,2 Prozent, womit der für die Fläche oftmals dominante Teufelskreis aus Abwanderung und "Brain Drain" entfällt. In den Eiscafés hat der Latte Macchiato genauso Einzug gehalten wie Bioprodukte und Esoterik in das Bewusstsein der Mittelschicht. Der Hegau, so der Name der Region um die südbadische Industriestadt Singen, ist eine Agglomeration, die urban wirkt, ohne ländliche Traditionen zu verleugnen. Janosch, Protagonist aus dem 1999 gedrehten, verstörend authentischen Skinhead/Punk-Drama Oi! Warning verließ diese süddeutsche Goldküste, weil sie ihm im jugendlichen Erlebnishunger zu spießig war, und tauschte die sanft geschwungenen Hügelketten gegen die Industriebrachen des Ruhrgebiets. Diejenigen, die am Bodensee geblieben sind, finden in der harmonischen Landschaft ein vergleichsweise reichhaltiges kulturelles Angebot vor, deren Macher allerdings mit den bundesweiten branchenüblichen Strukturproblemen zu kämpfen haben. Frank Hellwig zum Beispiel, Betreiber des Cinema-Kinos in dem 500-Seelen-Ort Zizenhausen.

Seit 1993 betreibt Hellwig das 98-Plätze-Kino am Ortsausgang des in einem engen Bachtal gelegenen Dorfes, das seit einigen Jahren zu der früheren Kreisstadt Stockach gehört, als Mischung aus Hobby und Nebenerwerb. Angefangen hat es im Domizil des örtlichen Kleintierzuchtvereins, wo er mit einem transportablen 35mm-Projektor einmal im Monat Filme vorführte. Das letzte kommerzielle Kino in Stockach hatte damals bereits geschlossen, und so bestand genug Bedarf nach den improvisierten Veranstaltungen und der Wille, Hellwigs Idee zur Gründung eines Kinos zu unterstützen. Das heutige Cinema ist in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Kunststoffspritzerei auf dem Gelände einer Futtermittelhandlung untergebracht. Die Vermieterin spendete die Materialien für den aufwendigen Umbau, auch die Stadt zeigt sich kooperativ, unterstützt den Kinobetrieb mit der Durchführung gemeinsamer Veranstaltungen wie der jährlichen "interkulturellen Woche".

Begonnen hat Hellwigs Kino-Leidenschaft mit einer Open-Air-Vorführung des DEFA-Films Apachen in seiner Geburtsstadt Wittenberg. Das aktuelle Programm ist eine Mischung aus Unterhaltung, anspruchsvollem Kino und Horrorfilmen. Dabei erweisen sich unbekanntere Filmkunstproduktionen als finanzielles Risiko, "leider", wie Hellwig zugibt, der sich sein Programm nach inhaltlichen Präferenzen aus dem aktuellen Angebot kommerzieller Verleiher zusammensucht. Obwohl das Publikumsverhalten "unkalkulierbar" geworden sei, ist man mit dem Nachspiel von Blockbustern "im Prinzip auf der sicheren Seite", auch wenn die Filme vielleicht schon einige Wochen auf dem Markt sind: "Inzwischen haben die Leute gelernt, zu warten." Hier kann das Cinema auf ein Stammpublikum setzen, während das Action-Publikum inzwischen fast vollständig zu den Multiplex-Kinos in den umliegenden Städten, vor allem nach Singen, abgewandert ist.

So tüftelt Hellwig ganz persönliche Marketing-Strategien aus, um den Aufmerksamkeitswert für sein Kino zu steigern. Bei Men in Black lud man zur Kostümparty im schwarzen Anzug und mit Sonnenbrille, und bei der Preview von Herr der Ringe im Jahre 2001 stand ein echtes Pferd im Foyer. Im Februar 2002 fand die Vorpremiere für den Videoclip des Paralympics-Songs Light your star in Anwesenheit der Macher und des Ski-Alpin-Weltmeisters Michael Hipp statt, der 1998 in Nagano mit der Silbermedaille ausgezeichnet wurde, und im Sommer macht der Cinema-Macher Open-Air-Kino im örtlichen Freibad.

Aktionen, die dem Regionalteil der örtlichen Tageszeitung Südkurier einen Tagestipp wert sind, aber auch den Aufmerksamkeitswert bei Filmemacher-Kollegen aus der nur wenige Kilometer entfernten Schweiz steigern. Vor kurzem hatte Hellwig zur Premiere des schweizerisch-deutschen Pilotenportraits Von Werra die Filmcrew und einige Angehörige des Fliegers zu Gast, und momentan gibt es eine Anfrage, die Premiere von Ivo Saseks Helden sterben anders, einem Epos aus der Zeit der schweizerischen Bauernkriege gegen die Habsburger, in dem kleinen Kino durchzuführen. Offensichtlich trifft Hellwig, der mit Familie im Stockwerk über dem Kino wohnt, mit seinem persönlichen Flair und der intimen Gemütlichkeit den Nerv eines Publikums, das auch mal längere Wege auf sich nimmt, um der neourbanen Café-Latte-Gleichförmigkeit auszuweichen.

Andere Event-Strategien sind dagegen an der Organisation des Alltags gescheitert. Im hinteren Teil des liebevoll mit ausrangierten Kinoprojektoren, alten Radiogeräten und Kostümstücken dekorierten Kinos befindet sich eine Bar, die inzwischen außer Betrieb genommen wurde. Schade um eine einmalige Club-Atmosphäre, doch Hellwig, der tagsüber als Werkzeugmacher arbeitet, merkt süffisant an, "dass die Leute da ewig sitzen, und ich muss ja morgens um sieben wieder raus."

Weihnachten stand die Romanze Liebe braucht keine Ferien auf dem Programm. Die Vorführung wurde zur Hängepartie mit dem Filmverleih, der kurz vor dem geplanten Start versuchte, die bereits zugesagte Filmkopie anderweitig einzusetzen. Offensichtlich wurde in einem konkurrierenden Kino mit besserem Rating ein Spielplatz frei - eine Erfahrung, die kleine Kinos bundesweit machen müssen. Hellwig, der sein Programm bereits an die Presse weitergegeben hatte, konnte den Verleih in letzter Minute davon überzeugen, ihm den Film doch zu schicken. Schließlich, resümiert er nicht ohne bitteren Unterton, sei er es, der von seinen Zuschauern in der Pflicht genommen wird, und "das ist ein Publikum, die verzeihen dir das nicht".

Der persönliche Draht zum Publikum gehört zu den wesentlichen Eckpfeilern des Einmannbetriebs. Das Cinema in Zizenhausen ist keine "Schule des Sehens" wie Kinoinitiativen in Häusern mit ähnlicher Größe. Hellwig, Programmgestalter, Kassierer, Vorführer und Kinotechniker in einem, macht Kino aus Leidenschaft. Dazu kommt das Filmemachen: In Zusammenarbeit mit dem Konstanzer Filmproduzenten Nick Herb entstanden einige Werbespots ortsansässiger Geschäfte, Arbeiten mit spielfilmerischen Ambitionen als "Alternative zu der üblichen Dia-Werbung", gefilmt auf Video. Das Filmemachen - im Moment gibt es die Idee, regionale Hegau-Sagen zu verfilmen - bezeichnet Hellwig als seine eigentliche Leidenschaft, nur, so führt er in lapidar-badischem Tonfall aus, "kam dann das Kino dazwischen". Hier allerdings erweist sich Hellwig als Kinofreak der alten Schule: "wenn das digitale Kino kommt, ist der ganze Reiz weg. Wenn das Rattern fehlt, ist es kein Film mehr."


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