Eine Lawine in Fahrt lässt sich nicht stoppen

ALLTAG Von Schneeball-Mails, Hoax-Warnern und Vandalismus im Internet

Der Ton der E-Mail ist dringlich. "Ich wende mich an euch, weil ich ziemlich verzweifelt bin. Meine Freundin ist an Leukämie erkrankt. Wir benötigen dringend einen Spender mit der Blutgruppe AB-negativ, der bereit wäre, Knochenmark zu spenden. Wenn ihr diese Blutgruppe habt, meldet euch bei mir!" Die Mail schließt mit einem Aufruf: "Sendet bitte diesen Brief an alle, die Ihr kennt!" Unterschrift: Julia Schmidt aus München, mitsamt ihrer Adresse, Fax- und Telefonnummer. Wer da nicht mitleidet, hat ein hartes Herz: den Blutspendeausweis aus dem Geldbeutel gefischt, nein, es ist nicht die gesuchte Blutgruppe. Also helfen wir Julia und ihrer Freundin wenigstens, indem wir den Hilferuf weiterschicken an all unsere Bekannten. Zwei, drei Mausklicks, und das gute Werk ist getan.

So dachten viele, sehr viele. Der Urheber hat ein Streichholz entfacht, aus dem schnell ein riesiger Flächenbrand wurde. "Diese Mail haben innerhalb weniger Tage mehrere hunderttausend Menschen im deutschsprachigen Raum bekommen und weitergeleitet", schätzt Netz-Dienstleister Frank Ziemann, der für die Technische Universität Berlin einen Hoax-Warndienst betreibt. Sie alle sind böse verulkt worden. Hoax, zu deutsch Schabernack, nennen die Computerfachleute derartige Mails. "Wer selbst Leukämie hat oder enge Freunde oder Verwandte, die betroffen sind, weiß, dass die Blutgruppe für eine Eignung als Spender von Knochenmark irrelevant ist."

Frank Ziemann hat versucht, mit der in dem Aufruf angegebenen E-Mail-Adresse des Urhebers in Kontakt zu kommen - sie war ungültig. Doch bei vielen Internet-Nutzern kam die Mail mit der Adresse der Münchnerin Julia Schmidt an. "Häufig geht die ursprüngliche Adresse in der Lawine verloren und die eines arglosen Weiterleiters nimmt diesen Platz ein", erklärt der Experte. Mit ungeahnten Folgen: Seit die Marketing-Assistentin versehentlich ihre eigene Adresse unter dem Hilferuf angehängt hat, kommt sie nicht mehr zum Arbeiten. Sie wird mit Hunderten von Mails und Anrufen bestürmt. "Es tut mir leid", sagt Julia dann jedes mal. "Falls Sie die Mail weitergeleitet haben, informieren Sie die Adressaten bitte, dass es sich um einen schlechten Scherz handelt." Doch eine Lawine in Fahrt lässt sich nicht stoppen.

"Die Zahl der Internet-User verdoppelt sich in Deutschland jedes Jahr. Damit sind immer zahlreiche Neulinge unterwegs im Netz, die den Unfug in bester Absicht weiterverbreiten", klagt Hoax-Experte Ziemann. Aber nicht nur Anfänger fallen herein. "Ich lasse jedenfalls künftig meine Finger von jeder Art von Hilferuf im Internet", sagt die interneterfahrene Julia Schmidt. "Schade eigentlich. Das ist wie bei dem Märchen Peter und der Wolf. Wenn künftig wirklich jemand Hilfe braucht, glaubt niemand mehr daran." Frank Ziemann erklärt die Motive der Urheber mit Geltungsbedürfnis: "Sie freuen sich, wenn sie nach einigen Tagen oder Wochen ihre eigene Mail über hundert Zwischenempfänger wieder zugeschickt bekommen oder wenn im Internet oder in gedruckten Medien vor ihrem Hoax gewarnt wird."

Geschäftemacher nutzen die Kettenbriefe, um E-Mail-Adressen zu ernten. Dem Internet-Nutzer wird dann sein Mitleid mit einer angeblichen Leukämiekranken möglicherweise mit Hunderten von Spams (abgeleitet von "Stupid Person's Advertisment"), also unerwünschter Werbung im elektronischen Postfach vergolten. Die "Hoaxbusters", die Humbug-Jäger des amerikanischen Energieministeriums vermuten auf ihrer Internetseite, dass die Spammer selbst Schneeball-Mails in Umlauf bringen, um an neue E-Mail-Adressen zu gelangen.

Häufiger als Knochenmarkspender-Kettenbriefe sind Virenwarnungen, die wohl fast jeder E-Mail-Nutzer schon von besorgten Freunden und Kollegen bekommen hat: "Virus WOBBLER trifft per E-Mail mit Titel CALIFORNIA ein. IBM und AOL haben mitgeteilt, dass dieser Virus praktisch ›tödlich‹ ist. Virus CALIFORNIA löscht alle in der Festplatte gespeicherten Informationen. Bitte diese Information auch an alle Bekannten und Mitarbeiter weitergeben, die per E-Mail arbeiten."

"Über 90 Prozent dieser Mails sind schlechte Scherze", sagt Frank Ziemann. Für ihn ist das Schreiben eines Hoax nichts anderes, "als wenn jemand in der Bahn Sitze aufschneidet" - Vandalismus, der Zeit und Geld kostet, vor allem wenn der Hoax in den Verteilern von Firmen landet. Wird ein Hoax über das Intranet eines Betriebes mit 1.000 Beschäftigten verbreitet und beschäftigt sich jeder mit der Mail nur zwei Minuten, gehen zusammengerechnet vier Arbeitstage verloren. Außerdem bremst der herumgeschickte Unfug den Verkehr auf der Datenautobahn. Einer der ersten angeblichen Viruswarnungen namens "Good times" ist in mehreren Variationen seit sechs Jahren unterwegs.

Was aber ist mit den restlichen zehn Prozent der Warnungen, die echt sind? "Grundsätzlich gilt: Die Schneeball-Mails sind durch all den Unfug derart diskreditiert, dass man sie nicht weiterverbreiten sollte", sagt Ziemann. Stattdessen sollten sich User über den Wahrheitsgehalt eines angeblichen Virus auf der Hoax-Warnseite der TU Berlin oder auf den Homepages von bekannten Antivirus-Firmen wie Mc Afee informieren. "Die Antivirus-Firmen haben auch Newsletter, die man abonnieren kann." Sollte also einer der 300 echten Viren, die jeden Monat auftauchen, tatsächlich gefährlich werden, erfährt man so am sichersten davon. "Die meisten Viren werden allerdings gar nicht in die freie Wildbahn losgelassen", erklärt Ziemann. "Viele Urheber informieren die Antivirus-Firmen selbst von ihrem neu geschaffenen Virus" - um sich daran zu ergötzen, wie die Welt vor ihrem Baby gewarnt wird. Eitelkeit, Missgunst: altbekannte menschliche Triebfedern finden im Internet eine neue Spielwiese. Nie war es so einfach und billig, eine Rufmordkampagne zu starten. Während Hillary Clintons Wahlkampf um einen Senatorensitz in New York verbreiteten Nutzer eine Schneeball-Mail. Vor dreißig Jahren hätten "Black Panther" einen Verräter aus den eigenen Reihen gefoltert und ermordet. Hillary Clinton hätte als Studentenführerin in Yale den Mord entschuldigt und mit ihrem Protest dafür gesorgt, dass die Täter milde Urteile bekommen hätten. Tatsächlich nahm sie zwar an Protesten teil, weil zu diesem Zeitpunkt die Schuld der Männer nicht feststand und die Studenten befürchteten, die Polizei wolle ihnen die Tat nur anhängen. Doch sagen damalige Mitkämpfer, dass Hillary Clinton keineswegs als Rädelsführerin auftrat, sondern mäßigend wirkte.

Und noch ein zweites mal wurde die Kandidatin im Wahlkampf Opfer eines Hoaxes. In einem Fernsehduell mit ihrem Kontrahenten wollte ein Zuschauer wissen, was die Kandidaten davon hielten, dass der Kongress eine Steuer von fünf Cent auf jede E-Mail einführen wolle. Beide Kandidaten wandten sich wortreich dagegen. Dabei hat es einen derartigen Gesetzentwurf nie gegeben. Es handelte sich um eine "urbane Legende", die durch das Netz eine viel rasantere Verbreitung erfährt.

Eine andere Legende, die in den Netz-Postfächern en vogue ist: Warnungen vor aidsinfizierten Junkies, die ihre benutzten Nadeln so geschickt in Zapfpistolen anbrächten, dass der Autofahrer beim Tanken sich unweigerlich daran sticht. Es gibt aber auch hübsche Geschichten, die über Schneeball-Mails verbreitet werden. So berichten sich amerikanische Internet-Nutzer die Geschichte von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, der bei der Landung außer seinem Satz "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit" auch noch die Worte gesprochen haben soll: "Good luck, Mister Gorsky." Jahrzehntelang rätselten Raumfahrt-Begeisterte, wer dieser Herr Gorsky war. Doch Neil Armstrong lächelte immer nur fein und blieb die Antwort schuldig. Als aber ein Vierteljahrhundert nach seinem Mondspaziergang erneut ein Reporter fragte, lüftete Armstrong endlich das Geheimnis. "Da Gorsky nun gestorben ist, kann ich es wohl erzählen", sagte er. "Als ich ein Kind war, spielte ich Baseball. Einmal fiel der Ball direkt unter das Schlafzimmerfenster unserer Nachbarn, den Gorskys. Als ich den Ball aufheben wollte, hörte ich Frau Gorsky schreien: Oral sex? Do you want oral sex? You'll get oral sex when the kid next door walks on the moon!" Die Mail schließt mit dem Satz: "True story." Tatsächlich?

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