Das Wall Street Journal, das sich gerne einmal um das Seelenheil des Verbündeten kümmert, hat in Deutschland eine "Patriotismus-Lücke" entdeckt und eine "Identitäts-Lücke". Die jetzt also auch? Richtig, im Frühling 1985, genauer am 8. Mai. Und selbst damals war das Blatt ein wenig spät dran. In der damaligen Bundesrepublik wurde schon länger über nationale Identität diskutiert, über Heimat, Nation, Patriotismus. Aber es war eher eine Diskussion unter Experten. Und wenn sie gelegentlich ins politische Alltagsgeschäft durchschlug, blieb die Nachdenklichkeit gleichwohl erhalten. Im Juni 1985 zog der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Evangelischen Kirchentag eine Art Zwischenbilanz als Aufgabenstellung
nstellung : "Es ist unsere Sache, dem Begriff deutsch einen Inhalt zu geben, mit dem wir selbst und mit dem die Welt gern und in Frieden leben können."Mit der nationalen Identität der Deutschen war es mehrfach schwierig. Wer seinerzeit 80 Jahre alt war, hat in vier unterschiedlichen Staaten gelebt, ohne dass er die Straße, in der er geboren wurde, jemals hätte verlassen müssen. Welcher Staat war identitätsstiftend? Vielleicht besser die Kulturnation? Die Berufung auf die Dichter und Denker wurde immer wieder eingeholt. Sie waren noch da, die schrecklichen Richter und Henker. Da war es schon bequemer, sich im Konsumismus des Wirtschaftswunders identifizierend einzurichten und die in der Tat heftigen politischen Auseinandersetzungen der jungen Bundesrepublik an sich vorbeirauschen zu lassen.Das freilich erschien nach einiger Zeit nicht mehr ausreichend. Aus der Geschichtswissenschaft und Geschichtspädagogik kam in den siebziger Jahren die Forderung nach Ausbau einer nationalen Identität der Bundesrepublik, die verbunden sein sollte mit einem "Ausbau der inneren demokratischen Ordnung", dies auch "angesichts sich verringernder ökonomischer Wachstumsraten und sich verschärfender sozialer Verteilungskämpfe". So 1976 der Historiker Karl Teppe. Bundesdeutsche Identität allerdings widersprach tendenziell dem Grundgesetzgebot der Wiedervereinigung. Als Jürgen Sparwasser 1972 final traf, war das eine nationale Katastrophe und nicht schön für die deutsche Nation. Beteiligung statt NibelungentreueDass die damalige Debatte auch von links aufgegriffen wurde, lag an der für sie widersprüchlichen Situation der Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre. Sie hatte sich gegenüber ökonomischen Krisen als ungeheuer stabil erwiesen - trotz Rezession waren grundlegende ökonomische Veränderungen in weite Ferne gerückt. Und sie hatte begonnen - wenn auch angestoßen durch eine Rebellion gegen Unbeweglichkeit -, ihre politische Kultur zu öffnen und zu lernen, demokratische Selbsttätigkeit zu ertragen. Der sozial-liberal geprägte Staat war eben nicht mehr Adenauers Kanzler-Demokratie. Das Land wurde von der offiziellen Politik nicht länger (allein) in einer Abgrenzung über ein nach außen verlagertes Feinbild definiert, dem nach außen eine Politik der militärischen Stärke und nach innen ein dazugehöriger Burgfrieden entsprach. Das Klima war eher geprägt von Willy Brandts Idee, mehr Demokratie zu wagen.Gustav Heinemann hatte 1972 bei der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises klargestellt, dass deutsche Identität nicht mit Untertanengeist zu verwechseln sei: "Wer sind heute die wahren Patrioten? Sind es die Selbstzufriedenen, die Deutschland, gleich, was bei uns geschah oder geschieht, aus Nibelungentreue ohne Einschränkung bejahen? Oder sind es die, die, weil sie ihr Vaterland lieben, sich nicht einfach mit dem, wie es ist, abfinden? Sie, die die Liebe zu Deutschland dazu treibt, in ihm mehr Raum für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu schaffen und damit manchmal notgedrungen zu Kritikern des Bestehenden werden?"An die Stelle einer Ausgrenzungsstrategie gegenüber der Linken war das Angebot getreten, sich zu beteiligen. Um es vorsichtiger zu formulieren: Die Ausgrenzungsstrategie wurde durch Beteiligungsangebote ergänzt. Die hier zu Tage tretende Chance formulierte Walter Jens seinerzeit so: "Wer unsere Republik sagt, möchte keine andere: er möchte diese Republik anders als sie sich jetzt manifestiert." Ein Großteil der Linken nahm das Angebot an, eine Minderheit verschwand im Terrorismus.Pazifistischer statt Hurra-PatriotismusMan kann es auch in einem großen historischen Rahmen sehen: Der klassische deutsche Obrigkeitsstaat, der seine Geburtsstunde in der Niederlage von 1848/49 hatte, zerbröselte - was nicht ausschließt, dass es Wiederbelebungsversuche gab und gibt. Das Verlangen nach Stolz auf Deutschtum gehört dazu. Immerhin aber: nationale Identität war nicht länger Anpassung an von oben vorgegebene Muster und das Ausleben von Opportunismus in Form von Hurra-Patriotismus.So gesehen dokumentierten - ohne dass das zunächst so gesehen wurde - die seit den Siebzigern entstandenen neuen sozialen Bewegungen ein republikanisches Bewusstsein im Sinne eines tätigen Misstrauens gegenüber der Obrigkeit, auch wenn sie durch mehrheitlichen Wahlentscheid zur Obrigkeit geworden ist. Das gilt zentral für die Ökologiebewegung und seit Beginn der Achtziger für die Friedensbewegung, aber auch für die zahllosen Bürgerinitiativen. Mit dieser demokratischen Selbsttätigkeit wurde angeknüpft an jenen Patriotismus, für den seit dem Vormärz deutsche Patrioten immer wieder außer Landes getrieben wurden. Gleichzeitig war dies ein identitätsstiftendes Moment zumindest für den linken oder linksliberalen Teil der Bevölkerung.Während die demokratische Selbsttätigkeit zunächst eher unbewusst zu einem Element deutscher Identität wurde, kam ein anderes aus der politiktheoretischen Debatte. Als nach der Durchsetzung der "Nachrüstung" Mitte der achtziger Jahre internationale Spannungen sich verschärften, tauchte die praktische Frage auf, ob und wenn ja welche vermittelnde Rolle die beiden deutschen Staaten spielen könnten. Die SPD - inzwischen in der parlamentarischen Opposition - hatte auf der Ebene der praktischen Politik die Formel von der Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden geprägt. Das griff der Historiker und damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Gerhard Heimann ein paar Jahre später unter dem Aspekt nationaler Identität auf: "Das Ziel, der europäische Frieden, ist anspruchsvoll genug, um, daran gemessen, die Nation trotz der staatlichen Teilung zu erhalten, was nur gelingt, wenn sie sich immer wieder als Willens- und Gefühlsgemeinschaft neu konstituiert. Auch in diesem Zusammenhang hat das Wort von der Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden einen besonderen Sinn. Der gemeinsame Kampf für den europäischen Frieden kann jene Solidarität über Staats- und Systemgrenzen hinweg schaffen, in die Nation sich weiterhin als solche erkennt." Friedenstiftend zu wirken als ein Merkmal nationaler Identität war eines der spannendsten Themen, die in der Friedensbewegung diskutiert wurden.Um das eingangs zitierte Wort Richard von Weizsäckers aufzugreifen: Mit einer nationalen Identität, die sich daran misst, dass Erbfreunde gewonnen werden, und Unruhe als erste Bürgerpflicht begreift, könnten wir und die Welt sicher gern und in Frieden leben.Politische statt soziale DemokratieEin Element war in der Debatte übrigens eher unterbelichtet: Die Herstellung von größerer sozialer Gerechtigkeit als identitätsstiftender Aufgabe. Soziale Demokratie war, sieht man von den Gewerkschaften ab, keine Zielsetzung. Stattdessen ging es um die Nutzung und Ausweitung politischer Demokratie. Am markantesten fiel das im Fehlen einer breiten Bewegung gegen Arbeitslosigkeit auf. Um das darin liegende Manko auf einer theoretischen Ebene zu benennen: Umfassende soziale Gerechtigkeit ist ein entscheidendes Element der Identifikation. Erst wenn sie geschaffen ist, "entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat".Dass Ernst Bloch, der mit diesem Satz "Das Prinzip Hoffnung" beendet, in der damaligen Debatte eine Renaissance erfuhr, dürfte nicht verwundern. Die Debatte um nationale Identität aber versandete sehr schnell, als zusammenwuchs, was zusammen gehört.
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