Arbeitswelt und Rente

Flexibel, interessant, unsicher Wer die neuen Möglichkeiten souveräner Lebensgestaltung nutzen will, sollte auch die Spätfolgen im Auge behalten

Dass es mit der Rente irgendwie eine vertrackte Sache ist, hat sich herumgesprochen. Da die große Mehrheit davon betroffen ist, sitzen viele spätestens seit Einführung der Riester-Rente am Taschenrechner und versuchen herauszufinden, was sie denn so im Alter erwartet. Was für den Einzelnen schwer einzuplanen ist, sind die Unbekannten. Die liegen weniger in der Riester-Rente. Denn sie ist einigermaßen klar strukturiert, und im Regelfall, das heißt bei tarifvertraglicher Umsetzung, sieht es für die Betroffenen nicht schlecht aus. Jedenfalls wenn man von dem Systembruch, dass Beiträge nicht je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt werden, absieht. Aber der ist ja schon fast vergessen.
Die Unbekannten liegen darin, dass die Rente mit sehr vielen anderen sozialen Fragen verknüpft ist und Handeln auf diesem Feld sich auch an anderer Stelle auswirkt. Der Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung ist bekannt. Immer weniger Jüngere finanzieren über den Generationenvertrag immer mehr Ältere. Deshalb wurde beginnend mit dem Rentenreformgesetz von 1992 beschlossen, die Regelaltersgrenze wieder schrittweise auf 65 zu erhöhen, was derzeit läuft - eine Gesetzgebung aus der Kohl-Ära, die übrigens nicht von der rot-grünen Koalition zurückgenommen wurde.
Die Maßnahme hat allerdings einen Nebeneffekt: Sie widerspricht der Praxis der Frühverrentung, die dazu beigetragen hat, dass die Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich in Deutschland eher niedrig ist - die Älteren haben Platz gemacht für Jüngere. Diese Wirkung sollte natürlich irgendwie gerettet werden. Deshalb wird auch weiterhin eine Frühverrentung ab 62 möglich sein. Nur für jeden Monat früheres Ausscheiden gibt es einen Rentenabzug von 0,3 Prozent, im Höchstfall also 10,8 Prozent weniger Altersgeld. Wer sich dafür entscheidet, muss im Vorfeld rechnen. Und viele werden zu dem Schluss kommen, dass sie sich das nicht leisten können. Also bleiben sie länger Beitragszahler, aber die, die später ihre Rente finanzieren müssen, kommen nicht in Jobs und sind somit keine Beitragszahler. Kurzum: Wenn man diesen Mechanismus einmal isoliert - was in der Praxis so natürlich nicht geht - zeigt sich, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters keinerlei Wirkung hat.
Ein anderer Zusammenhang von Rente und Arbeitswelt geht aus von der allgegenwärtigen Debatte um Flexibilisierung. Einmal abgesehen von den Fragen, wie weit Flexibilisierung gehen darf und welche Bereiche sie erfassen soll, ist eines klar - sie findet statt. Einige Formen von Flexibilisierung haben keinerlei Auswirkung auf die Rente. Dies gilt etwa für die Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Ob jemand von Montag bis Freitag arbeitet oder von Donnerstag bis Montag spielt keine Rolle. Er arbeitet und erwirbt Anwartschaften. Das Gleiche gilt für die jährliche Verteilung der Arbeitszeit. Wer über zwei Jahre ein Projekt durchzieht, viele Überstunden macht und gleichzeitig keinen Urlaub nimmt, kann sich im dritten Jahr für sechs Monate an den Strand legen, und nichts ändert sich. Das gilt schließlich auch für die Flexibilisierung des Arbeitsortes, etwa durch ständige oder alternierende Telearbeit.
Anders sieht es bei einer Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse aus. Das betrifft zunächst die Teilzeitarbeit. Da die Höhe der Rente an die Einkommen gekoppelt ist und Teilzeit eben nur ein Teilentgelt bringt, gibt es weniger Rente. In der Praxis kommt hinzu, dass Teilzeit in Deutschland in der Regel auf weniger qualifizierte Arbeitsplätzen beschränkt ist und im Wesentlichen Frauen trifft.
Arbeitsmarktpolitisch aber gilt Teilzeitarbeit als ein Schlüssel zur Erhöhung der Erwerbstätigenquote. Am Beispiel der Niederlande zeigt sich, dass eine hohe Teilzeitquote - 40 Prozent der ArbeitnehmerInnen - den Arbeitsmarkt erheblich entlasten kann. Allerdings gibt es Teilzeit in den Niederlanden auch bei hochqualifizierten Berufen. Daneben wird bei gering qualifizierter Arbeit - und entsprechend geringem Einkommen - mögliche Altersarmut durch eine gesetzlich gesicherte Mindestrente verhindert, die ihrerseits allerdings an eine 50jährige Wohnzeit im Land geknüpft ist. Eine ähnliche Regelung gibt es in Dänemark mit 40jähriger Residenzpflicht.
Auswirkungen von flexibilisierten Beschäftigungsverhältnissen auf die Rente gibt es auch aufgrund befristeter Arbeitsverträge. Damit haben sich Arbeitgeber ein Mittel geschaffen, Beschäftigung entsprechend dem eigenen Interesse auf- und abzubauen und die eingeschränkten Möglichkeiten des "Hire and Fire" auf "sanfte" Weise auszuweiten. Wie klug das aus unternehmerischer Sicht ist, sei dahingestellt. Denn so wird auch Know-How-Verlust organisiert, der über Arbeitszeitkonten weitgehend verhindert werden könnte. Und: Beschäftigte mit Zeitverträgen sind mental ständig auf dem Absprung und sehen sich um. Sie bauen die notwendige Identifikation mit der Arbeit nur in Maßen auf, was sich in der Produktivität niederschlägt. Für die Betroffenen aber bedeutet das auch einen potenziellen Verlust bei der Rente, wenn sie es nicht schaffen, von einen Zeitvertrag in den nächsten zu rutschen, ohne zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit.
Die deutlichsten Einschnitte schließlich bringt der Wechsel in die Selbständigkeit. Das kann etwa durch "Outsourcing" von Beschäftigten geschehen, was für die Betroffenen oft lediglich ein Statuswechsel ist, bei dem sie das Arbeitgeberrisiko übernehmen. Dann liegt in der Regel Scheinselbstständigkeit vor. Es kann aber auch sein, dass ein Unternehmen neu hinzukommende Arbeiten - etwa im Bereich unternehmensnaher Dienstleistungen - gar nicht erst im Haus erledigen lässt, sondern von Freiberuflern. Das heißt: Ein Arbeitsplatz im Unternehmen wird gar nicht erst geschaffen. Auch hier kann es sich um Scheinselbstständigkeit handeln, etwa wenn Weisungsgebundenheit vorliegt oder nur für einen Auftraggeber gearbeitet wird. Als Selbstständige werden die Betroffenen - außer Journalisten und Künstler - aber nicht automatisch von der gesetzlichen Rentenversicherung erfasst. Sie laufen also Gefahr, trotz guten Einkommens keine Absicherung im Alter zu haben.
Vor allem bei qualifizierten Beschäftigten ist der Wechsel zwischen verschiedenen Arten der Beschäftigung mittlerweile ausgeprägt: von einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in Freiberuflichkeit und wieder zurück. Oder Teilzeit und Selbstständigkeit laufen nebeneinander. Die Zahl solcher Beschäftigten liegt nach Schätzungen von Ulf Imiela vom DGB-Angestelltensekretariat bei rund 2,5 Millionen. Die Betroffenen fühlen sich keineswegs allesamt in den Wechsel gezwungen. Viele begrüßen die flexiblere Lebensplanung und folgen ihren inhaltlichen Berufsinteressen. Ein Ingenieur kann zum Beispiel zunächst ein eigenes Büro unterhalten und dieses dann aufgeben, weil ein großes Unternehmen für ein mehrjähriges Projekt einen spezialisierten Experten sucht. Nach der Projektzeit folgt wieder die Selbstständigkeit. Solche Biografien können für die, die sie wollen, interessant und erstrebenswert sein. Sie setzen allerdings auch Risikobereitschaft voraus - nicht zufällig ist in diesem Zusammenhang bisweilen von "prekärem Wohlstand" die Rede. Auf der anderen Seite haben solche Biografien volkswirtschaftlich einen großen Effekt. Sie sorgen dafür, dass in sich schnell verändernden Strukturen Experten da zur Verfügung stehen, wo sie gerade gebraucht werden.
Um die von den Unternehmen geforderte und von den Beschäftigten oft auch gewünschte Flexibilität sozial zu flankieren, wird in der Wissenschaft seit einiger Zeit unter dem Stichwort "Flexicurity" debattiert, wie zum Beispiel die neuen Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden können. Diskussionen um die Erweiterung des Arbeitnehmerbegriffs könnte man sich dann ebenso ersparen wie eine Auseinandersetzung darüber, wo die Grenzen zwischen Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit liegen. Natürlich ist es auch möglich, alle Einkommensquellen in die Rentenversicherungspflicht einzubeziehen. Diese Radikalität - von der konservativen Schweiz ohne Beitragsbemessungsgrenze für die Spitzenverdiener praktiziert - ist leider in Deutschland immer noch ein Tabu.

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