Vielleicht war es ganz gut, dass Günter Verheugen auf etwas ungewöhnliche Art und Weise daran erinnert hat, im laufenden Jahrzehnt steht so etwas wie eine EU-Erweiterung nach Osten an. Darüber, was geschieht, wenn die Grenzen fallen, wird - wenn überhaupt davon die Rede ist - munter spekuliert. Eine Frage, die immer wieder hoch kommt: Werden die westeuropäischen Arbeitsmärkte von billigen Arbeitskräften aus Osteuropa überschwemmt? Werden dadurch soziale Standards und Tarifverträge ausgehebelt?
Ein schlagkräftiges Argument dabei sind die Einkommensunterschiede. So sind die Entgelte in Deutschland zehn Mal höher als in Polen. Allerdings sagt das zunächst einmal nicht allzu viel aus, da sich die Berechnungen auf nominale Einkommensh
kommenshöhen und Wechselkursparitäten beziehen. Berücksichtigt man die Kaufkraft, liegen die Einkünfte in Polen bei zirka 35 bis 40 Prozent der deutschen - in Tschechien bei 50 und in der Slowakei sogar bei über 60 Prozent. Diese Zahlen dokumentieren das ganze Land betreffende Durchschnittswerte - vergleicht man hingegen den deutsch-polnischen Grenzraum, so fällt auf, dass die Einkommensunterschiede gering sind. Westpolen ist die wirtschaftlich am stärksten entwickelte Region des Landes, während auf der anderen Seite das brandenburgische und sächsische Grenzgebiet äußerst strukturschwach ist. Auf der polnischen Seite weist die Arbeitslosigkeit deutlich niedrigere Werte auf als auf der deutschen. Bei einer Arbeitnehmerfreizügigkeit würden polnische Arbeitnehmer demzufolge wohl kaum in der deutschen Grenzregion Arbeit suchen, sondern eher nach Berlin, ins Ruhrgebiet oder in den süddeutschen Raum gehen. Dann aber entfiele der Wechselkursvorteil, der ja nur dann gilt, wenn man im eigenen Land lebt und in einem anderen arbeitet.Arbeitnehmerfreizügigkeit - DienstleistungsfreiheitIn der ökonomischen Ordnung der EU gibt es neben dem freien Warenverkehr und dem freien Kapitalverkehr zwei weitere ökonomische Freiheiten: Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Arbeitnehmerfreizügigkeit - festgelegt im Amsterdamer Vertrag - besagt, dass ein Unionsbürger in jedem Mitgliedsland eine Arbeit aufnehmen kann. Davon unterschieden ist die Dienstleistungsfreiheit. Jedes Unternehmen hat das Recht in einem anderen EU-Land Dienstleistungen zu erbringen. Das bezieht sich in der Praxis im wesentlichen auf die Bauwirtschaft, obwohl auch das Transportgewerbe und private Dienstleistungen betroffen sind. Da der Arbeitsort entsprechend dem Direktionsrecht der Unternehmen festgelegt werden kann - die Mitbestimmung greift hier nicht -, findet sich in der Praxis bisweilen ein portugiesischer Bauarbeiter unversehens auf einer Baustelle in Deutschland wieder. Damit diese Möglichkeit nicht zu Lohndumping und Wettbewerbsverzerrungen führt, wurde zunächst auf bilateraler Ebene von Deutschland und Österreich aus - dann durch eine EU-Richtlinie (Entsenderichtlinie) - festgelegt, dass auf Baustellen in Deutschland ein Mindestlohn nach dem hier üblichen Tarif gezahlt werden muss. Wer also auf deutschen Baustellen portugiesische oder Arbeitnehmer aus anderen Ländern sieht, kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie freiwillig hier sind, sondern auf Grund eines erzwungenen Nomadentums.Um Modellrechnungen für potenzielle Wanderungsbewegungen zu erstellen, müssen also diverse Faktoren einbezogen werden. Eine solche Kalkulation wurde unlängst auf europäischer Ebene erstellt, wobei von deutscher Seite neben dem DIW auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) beteiligt war. Dabei wurden Erfahrungen mit der EU-Süderweiterung ebenso berücksichtigt wie Entwicklungen beim Bruttoinlandsprodukt und der Arbeitsmarktsituation in den potenziellen Aufnahmeländern. Auf dieser Basis wird geschätzt, dass aus den zehn osteuropäischen Beitrittsstaaten (*) nach Öffnung der Grenzen zusammen jährlich 300.000 Arbeitskräfte in die alte EU strömen dürften - davon 200.000 nach Deutschland. Da nicht alle Länder gleichzeitig beitreten, wird sich dieser Transfer über einen Zeitraum von mehreren Jahren verteilen. Bezogen auf Polen, Tschechien, Ungarn - Staaten der ersten Beitrittsgruppe - liegen die Schätzungen für eine Wanderung in Richtung Deutschland bei knapp über 100.000. Beileibe keine dramatische Zahl, wenn man zusätzlich ins Kalkül zieht, dass Deutschland gegenüber den Beitrittskandidaten einen Handelsbilanzüberschuss aufzuweisen hat, was nichts anderes bedeutet, als dass eine große Zahl von Arbeitsplätzen in der Exportindustrie durch den Osthandel gesichert wird.Verdrängungswettbewerb zwischen gering QualifiziertenEine ganz andere Frage ist es, welche Arbeitnehmergruppen von einer Ost-West-Strömung betroffen sein werden. Die Arbeitsmarktsituation in Deutschland lässt seit langem die Tendenz erkennen, dass die Zahl der Arbeitsplätze mit geringen Qualifikationen abnimmt. Wenn eine Nachfrage nach Arbeitskräften entsteht, bezieht sich das auf qualifizierte Tätigkeiten. Was das etwa für Polen bedeutet, erläutert Elmar Höhnekopp vom IAB so: Das Land importiert in hohem Maße Investitionsgüter, was einen normalen Aufholprozess charakterisiert. In der Investitionsgüterindustrie werden qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, während im Bergbau, in der Schwerindustrie, vor allem aber in der Landwirtschaft, abgebaut wird. Dort arbeiten derzeit 19 Prozent der Beschäftigten. Diese Zahl, so Höhnekopp, werde drastisch sinken und sich auf das EU-Maß von etwa drei Prozent reduzieren. Nun ist die Altersstruktur der in der polnischen Agrarwirtschaft Beschäftigten so, dass relativ viele in den Ruhestand gehen und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen werden. Es bleibt eine große Zahl von gering Qualifizierten, die auf den nationalen Arbeitsmarkt drängen. Da dort vor allem die Qualifizierten Aufnahme finden, sind erstere potenzielle Kandidaten für eine Wanderung - jedoch mit geringen Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Oder aber es kommt zu einem Verdrängungswettbewerb um die sinkende Zahl gering qualifizierter Arbeitsplätze, wobei dann die Gefahr besteht, dass Inländer Opfer von Lohndumping werden. Diese Inländer sind im Übrigen zu einem großen Teil Arbeitnehmer mit einem ausländischen Pass. - Kurz gesagt: In einem unteren Segment der Qualifikationsstufen kann es zu Konflikten kommen. Insgesamt aber dürften nach Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit weniger qualifizierte Beschäftigte auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen, als es auf Grund der demographischen Entwicklung eigentlich notwendig wäre.Eintrittsgeld für eine Arbeit im AuslandWährend bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Einkommensunterschiede im Verhältnis zu Osteuropa nur ein Faktor unter vielen sind, stehen sie bei der Dienstleistungsfreiheit sehr viel mehr im Mittelpunkt. Unternehmen - vorzugsweise aus der Baubranche - nutzen heute schon das Gefälle, teilweise durch illegale Praktiken, wobei vielfach die Entsenderichtlinie (s. Kasten) unterlaufen wird. Das ist dann der Fall, wenn der festgelegte Mindestlohn auf die Woche bezogen zwar gezahlt wird, die Beschäftigen aber nicht 38 oder 40, sondern 60 oder 70 Stunden arbeiten müssen. Daneben gibt es eine Art Eintrittsgeld für eine Arbeit im Ausland. Außerdem behalten die Unternehmen gern horrende Summen für Unterkunft und Verpflegung ein. Eine Schwierigkeit liegt auch darin, dass die Bestimmungen der Entsenderichtlinie nur auf individueller Basis eingeklagt werden können. Ein Arbeitnehmer, der unterbezahlt wird, dürfte es sich aus Furcht um seinen Arbeitsplatz sicherlich zweimal überlegen, ob er klagt. Nach wie vor stehen Regelungen aus, um auch den Gewerkschaften oder den kontrollierenden Arbeitsämtern ein Klagerecht einzuräumen. Die Lösung kann allerdings nicht darin liegen, die Dienstleistungsfreiheit - wie etwa von der IG BAU gefordert -, für zehn Jahre auszusetzen, sondern nur darin, die Gesetzeslage zu verbessern und die Kontrollen zu erhöhen. Dies gilt nicht zuletzt für die Osterweiterung der EU insgesamt: Nicht Fristen sind die Lösung, sondern Programme, die osteuropäische Nachbarn an die EU heranführen. Was heißen kann, die betreffenden Länder schon vor dem Beitritt in die Planungen des EU-Strukturfonds einzubeziehen.(*) Als erste Beitrittsaspiranten gelten Polen, Tschechien, Ungarn, Estland und Slowenien. Als Kandidaten anerkannt sind: Litauen, Lettland, Bulgarien, Rumänien und die Slowakei.
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