Am Sitz der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris denken die Wissenschaftler beim Mittagessen seit längerem noch mehr als früher heimlich daran, das Besteck zu mißbrauchen und auf die Kollegen am Nebentisch loszugehen. Der lang anhal tende Konflikt zwischen den Ökonomen und den Arbeitsmarktforschern ist heftig eskaliert, seit Ende Juni der diesjährige Beschäftigungsbericht, der sogenannte Employment Outlook, erschien, den die Arbeitsmarktexperten verfaßt haben. Eine Regulierung des Arbeitsmarktes hat keine oder keine statistisch signifikante Auswirkung auf Beschäftigung und Ar beitslosigkeit - so eine zentrale These des 252-Seiten-Berichts. Eine andere: Das Vorhandensein einer betrieblichen Interessenvertretung und geregelte in dustrielle Beziehungen sind für die Einführung neuer Arbeitsorganisation die besten Voraussetzungen. Gleichzeitig fügt sich der Bericht in eine Reihe von Überlegungen und Debatten darüber, wie Sozialstaatlichkeit und Mitbestimmung als Standort faktor wirken können. Kurz: Der rheinische Kapitalismus ist neu ins Gespräch gekommen.
Wenn sich die neoliberale Yuppie-Junta der Ökonomen, die seit Anfang der achtziger Jahre den Kurs der OECD prägt, von anti kapitalistischen Aufständischen bedroht fühlt, ist das natürlich paranoid. Dennoch: der neue Employment Outlook birgt erheblichen Sprengstoff. Denn wenn statistisch un termauert wird, daß das amerikanische »Hire and Fire« keine Arbeitsplätze schafft, müssen die Regierungen sich fragen lassen, warum sie in den vergangenen Jahren erheblich dereguliert und damit die soziale Situation der Menschen verschlech tert haben.
Der Employment Outlook greift unterschiedliche Themen auf: Jugendarbeitslosigkeit, Teilzeitbeschäftigung, Fort- und Weiterbildung und eben arbeitsrechtliche Regelungen und neue Arbeitsorganisation. Bei den arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen wurde im Gegensatz zur früheren Forschung die Definition erweitert: tarifvertragliche Vereinbarungen und die Rechtsprechung gehören nun dazu. Am Beispiel einer regulären Kündigung eines unbefristet beschäftigten Arbeit nehmers läßt sich verdeutlichen, welche Faktoren eine Rolle für die Bewertung der Schutzbestimmungen spielen. Wann ist eine ausgesprochene Kündigung wirksam? Das reicht von einem Tag etwa in den USA und Kanada bis zu 32 Tagen in Korea und 31 in den Niederlanden. Gibt es bestimmte Regularien, die eingehalten werden müssen? Nach wieviel Monaten Betriebszugehörigkeit beispielsweise gelten Kündigungsregelungen? In Deutschland sind das zum Beispiel sechs Monate (Probezeit), in Österreich ein Monat, in Großbritan nien 24, und in den USA gibt es kein festgeschriebenes Procedere bei Kündigungen. Wie hoch ist eine Entschädigung bei unrechtmäßiger Kündigung? Auch hier variiert das von null (USA) bis zu 32,5 Monatsgehältern (Italien). Schließlich wird bewertet, wie groß die Möglichkeit ist, daß ein zu Unrecht Entlassener auch gegen den Willen seines Arbeitgebers auf seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren kann. Diesen Indikatoren zufolge ist der Schutz der Arbeitnehmer am größ ten in Por tugal, gefolgt von den Niederlanden und kurz dahinter Deutschland. Am unteren Ende liegen die Schweiz, Australien, Kanada, Großbritannien und ganz am Schluß erwartungsgemäß die USA.
Historisch gibt es seit Beginn der achtziger Jahre bei den OECD-Ländern einen Trend zur Deregulierung der Arbeitsmärkte. Auffällig dabei ist die starke Zunahme befristeter Beschäftigungsverhältnisse und die Zulassung von Zeitarbeitsfirmen. Allerdings gab es in einigen Län dern auch gegenläufige Maßnahmen. So wurde etwa in Frank reich bei Massenentlassungen ein Sozialplan für bindend erklärt, und die Bestimmungen für Zeitarbeitsfirmen und befristete Beschäftigung verschärft. Insgesamt - unter Berücksichtigung von Kündigungsschutz, Massenentlassun gen, Möglichkeit prekärer Arbeitsverhältnisse (im Gegensatz zu regulären Verträgen) - ist die Regulierung des Arbeitsmarktes am stärksten in den südeuropäischen Ländern, es folgen die mittel- und nordeuropäischen Länder, wobei Dänemark und die Schweiz nach unten abweichen. Ähnlich liegen Japan und Korea. Danach folgen die mittel-osteuropäischen Länder und schließlich Großbritannien, Irland, Neuseeland, Australien und die USA am Ende.
In den neoliberalen ökonomischen Modellen wird davon ausgegangen, daß Schutzbestimmungen den Arbeitsmarkt beeinflussen. Sie stellen demzufolge eine Art Steuer für Entlassungen dar. Grundsätzlich sind entgegengesetzte Wirkungen einer solchen Steuer auf die Personalpolitik der Unternehmen denkbar: Tarifverhandlungen führen zu niedrigeren Löhnen - das hieße, die Unternehmen laden die »Entlassungssteuern« auf die Beschäftigten ab - oder aber zu höheren Einkom men, weil die Arbeitsplatzbesitzer geschützt sind und damit eine starke Verhandlungsmacht besitzen. Unausgesprochen ist in solchen Modellen fast immer die Logik enthalten, daß schwache Gewerkschaften lohndämpfend und arbeitsplatzschaffend wirken. Das war bekanntlich eine Grundposition der Politik Margret Thatchers.
Der Employment Outlook stellt eine solche Herangehensweise grundsätzlich infrage, »weil es noch nicht möglich ist, alle der möglicherweise wichtigen Effekte von Schutzbestimmungen in die bestehenden ökonomischen Modelle ein zubauen. Zum Beispiel werden viele der potentiellen Vorteile, die daraus entstehen, daß stabile Beschäftigung gefördert wird (etwa kooperativere industrielle Beziehungen und höhere Berufserfahrung), kaum berücksichtigt.« Kritisiert wird, daß diese Modelle darauf zielen, die Kosten für eine externe Flexibilisierung zu senken, aber die Chancen interner Flexibilisierung ignorieren.
Was sich wie ein theoretischer Streit anhört, ist von ganz praktischer Be deu tung. Während Unternehmen in den USA auf wechselnde Auftragslagen mit Entlassungen beziehungsweise Einstellungen reagieren, wird das in den europäischen Ländern und Japan durch Überstunden - oder eleganter: Arbeitszeitkonten - gere gelt. Über einen bestimmten Zeitraum gerechnet aber sind in einem amerikanischen Unternehmen ähnlich viele Arbeitsstunden geleistet worden wie in einem vergleichbaren europäischen. Der Unterschied allerdings liegt darin, daß eine stabile Belegschaft im Schnitt qualifizierter ist als eine fluktuierende und des halb auch produktiver, was noch dadurch verstärkt wird, daß nicht in schneller Folge Einarbeitungszeiten anfallen. Der Sozialstaat rechnet sich also auch für die Unternehmen.
Heute wird das zumeist anders gesehen. Regulierungen des Arbeitsmarktes - etwa Kündigungsschutz und Mindestlöhne - fördern den »Ausschluß großer Teile der Arbeitnehmerschaft von wirksamer Teilhabe am Arbeitsmarkt - das bedeutet das Vertiefen der Spaltung zwischen den ÂZugehörigenÂ, die durch höhere Löhne und größere Arbeitsplatzsicherheit von der wirtschaftlichen Rendite profitieren und Restriktionen des Wettbewerbs erzeugen und den ÂAußenstehendenÂ, die die Kosten tragen«. Diese Position entstammt dem OECD-Bericht Structural Adjustment and Economic Performance von 1987. Dieser Bericht markierte den Sieg der Neokonservativen in der OECD und war auch offiziell Leitfaden politischen Handelns. Eine Art Kultbuch im neoliberalen Lager ist er ohnehin. Gar nicht einmal überra schend ist, daß der aktuelle Employ ment Outlook zwar viele OECD-Be richte zitiert, diesen aber nicht.
Indirekt allerdings wird das Insider-Outsider-Modell durchaus behandelt. Richtig ist zunächst einmal, daß die durchschnittliche Länge der Arbeits losigkeit bei strikteren Regulierungen länger ist. Bei deregulierten Arbeitsmärkten dagegen hat man zwar durchschnittlich schneller die Chance, wieder Arbeit zu finden, andererseits ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, entlassen zu werden. Per saldo wird dadurch nicht mehr Beschäftigung geschaffen. Dies aber wird immer wieder unterstellt, so auch in Structural Ad justment. Die Variante dieser Behauptung lautet in der Tagesagitation so: Neue Stellen würden nicht geschaffen, weil die Unternehmen der Konjunktur noch mißtrauen und keine Leute einstellen, die sie schwer wieder los werden. Im Em ployment Outlook wurde einfach einmal nachgerechnet: Die Bilanz aus den neu entstehenden Arbeitsplätzen und den vernichteten Arbeitsplätzen unter scheidet sich - über einen bestimmten Zeitraum gerechnet - in den USA nicht von Europa. Und die statistisch mögliche Tatsache, daß Outsider bei schnellem Zu- und Abfluß die Chance haben, in Arbeit zu rutschen, kann kaum positiv be wer tet wer den, da sie als erste wieder »abfließen«. Hier müssen ganz andere ar beitsmarkt politische Mittel greifen. Eine hohe Arbeitslosenquote hat viele Ursachen, aber nicht die fehlende Möglichkeit des »Hire and Fire«. Weder die Erwerbsbeteiligung noch die Arbeitslosenquote hängen davon ab, ob der Arbeitsmarkt reguliert ist. Interessanter weise gibt es nicht einmal eine Korrelation zwischen reguliertem Arbeits markt und befriste ter Beschäftigung. Denn eigentlich wäre zu vermuten, daß Unternehmen, um die Regulierungen zu unterlaufen, verstärkt befristet einstellen.
Der Employment Outlook jedenfalls bewertet stabile Beschäftigungsverhältnisse als eine Grundlage für notwendige betriebliche Modernisierung. Denn »Arbeitnehmer, die sich sicher fühlen, dürften sich der Einführung neuer Technologien am Arbeitsplatz und der Neuorganisation der Arbeitsabläufe weniger widersetzen.« Mehr noch: Unter nehmen mit funktionierenden Arbeitsbeziehungen und einer entwickelten Mitbestimmungskultur - dies wird in einem eigenen Kapitel untersucht - sind eher in der Lage, organisatorische Umstellungen vorzunehmen, die von den Beschäf tigten nicht nur akzeptiert, sondern positiv umgesetzt werden. Ein solcher An satz steht in deutlichem Kontrast zum Structural Adjustment-Bericht, der noch eine Abschaf fung von Mindesteinkommen und eine Senkung der Arbeitslosenunterstützung gefordert hatte, um deren »leistungshemmende Wirkungen« zu senken und so »Anreize« zur Annahme von Niedriglohnjobs zu schaffen. Wie mit einer Ar beitnehmerschaft, die generell unter erheblichem sozialen Druck steht, struktu reller Wandel bewältigt und auf Dauer rentabel gearbeitet werden soll, blieb al lerdings schon seinerzeit unbeantwortet.
Der diesjährige Employment Outlook stieß in der Politik spontan auf Widerstand. Nach Protesten der italienischen und spanischen Regierung - die beide ge rade ihre Arbeitsmärkte weiter deregulieren wollen - erklärte die OECD beschwichtigend, es müsse weiter geforscht werden, und der Bericht sei eine Art Zwischenergebnis. Dennoch ist längst deutlich geworden, daß die Diskussion um den rheinischen Kapitalismus nun auch die offiziellen ökonomischen Institutionen erreicht hat.
Über So zialstaatlichkeit als Standortfaktor wird schon seit längerem diskutiert, und es gibt Versuche, entsprechend zu handeln. Intensiv geschieht das etwa in den internationalen Ge werkschaftsbünden - auch im Dia log mit verschiedenen Unternehmensvertretern. Auf einer Tagung von Euroca dres - einem Zusammenschluß gewerkschaftlich organisierter Fach- und Füh rungskräfte - Ende 1996 hat die oberste Personalverantwortliche von Philips, Regine Mathijsen, das amerikanische Managementmodell für gescheitert erklärt und den rheinischen Kapitalismus als - auch kulturell - angemessene Vorgehensweise für Europa bezeichnet. In einem Gespräch mit der Zeitschrift Die Mitbestimmung hat sie das dann noch einmal wiederholt.
Das ist nun keineswegs die herrschende Meinung im europäischen Arbeitgeberlager, ganz im Gegenteil. Deren Dachverband - UNICE - weigert sich zum Beispiel hartnäckig, Tarifverträge auf europäischer Ebene abzuschließen. Des halb wird versucht, auf betrieblicher Ebene zu Übereinkünften zu kommen. So ist es der Internationalen der Privatangestellten (FIET) gelungen, mit zahlreichen Firmen die freiwillige Einrichtung von Euro-Betriebsräten zu vereinbaren. Zu diesen Unternehmen, die von der Richtlinie über Euro-Betriebs räte nicht er faßt sind oder zu dem Zeitpunkt nicht waren, zählen etwa H, Car refour und IKEA. Mit dem Europäischen Industrieverband für Informationstechnologie, EU ROBIT, gibt es derzeit Verhandlungen über eine gegenseitige Anerkennung als Tarifvertragspartei, um dann über Rahmentarife - etwa zum Thema Weiterbildung - zu verhandeln. Hier ist ein Anfang gemacht, den rheinischen Kapitalismus als eine Variante durchzusetzen, bei der der Korridor gemeinsamer Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erweitert wird und für die Beschäftigten Vorteile bringt.
Auch die EU-Kommission, die lange Zeit auf jede gestellte Frage mit Deregulierung antwortete und die USA kopieren wollte, ist etwas nachdenklicher geworden. So hebt zum Beispiel das 1998 erschienene Grünbuch zur Ar beitsorganisation den sozialen Dialog als Vorteil gegenüber den USA hervor. Und auf internationalen Konferenzen rufen Kommissionsvertreter auf, Mitbestimmung in den Unternehmen zu installieren, was übrigens auch gefördert wird. Mitbestimmung auch rechtlich durchzusetzen, weigert sich die EU-Kommission allerdings noch.
Ein letztes Beispiel: Auch auf dem Wirtschaftsgipfel in der Hauptstadt neolibe raler Globalisierung - Davos - gibt es seit einigen Jahren etwas Nachdenklich keit und eine - zumindest ansatzweise - Rückbesinnung auf den rheinischen Kapitalismus. »Wir müs sen das Ver trauen der Arbeiter und Angestellten wieder gewinnen und gemein sam dafür Sorge tragen, daß auch die lokalen Verbände, Städte und Regionen profitieren können. Sonst werden wir eines Tages einer sozialen Bewegung ge genüber stehen, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben.« So die frühere Chefin des Harvard Business Review, Rosabeth Moss Kanther, beim Davoser Forum 1996.
Der Tenor des Employment Outlook ist so ganz exotisch also nicht. Die neoliberale Selbstgewißheit, daß Regulierungen Teufelszeug seien und die unsichtbare Hand des Marktes alles löse, wird allmählich erschüttert. Gänzlich unerschüttert von solchen Debatten zeigen sich dagegen die Teile der SPD, die gerade den schlichten Charme neoliberalen Denkens entdeckt haben und jene Grünen, die zu wis sen glauben, daß selbst für den Umweltschutz nur die Marktkräfte freizusetzen sind. Die »Neue Mitte« huldigt einem Begriff der Modernität, den andere längst hinter sich gelassen haben.
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