Ganz zum Schluss von Jakob der Lügner (Jakob the Liar) hebt Jakobs Stimme aus dem Off wieder an, wie schon zu Beginn des Films. Es ist die Stimme eines Toten: Jakob Heym ist längst vom Getto kom mandan ten erschossen worden, weil er den Besitz eines Radios, das er gar nicht besaß, vor dem versammelten Getto nicht widerru fen hat. Er hat zum ersten Mal in diesem Film geschwiegen. Danach stehen oder liegen die übriggebliebenen Bewohner des Gettos, unter ihnen Lina, das kleine Mädchen, das Heym ver steckt gehalten hat, im Zug nach Auschwitz oder in ein anderes Konzentrationslager.
Jakobs Stimme resümiert das Geschehen, der Kreis der Erzählung scheint geschlossen. Doch bevor er seine Mission für endgültig gescheitert erklärt, verstummt er wieder
#228;rt, verstummt er wieder. Kein Wort wird mehr gesprochen werden: Wir sehen mit Linas Blick aus einem kleinen Gitterfenster auf eine trübe, gleichförmige Steppe. Aus der Tiefe dieser Weite bewegen sich plötzlich Panzer heran, langsam und sehr leise kommen sie näher. Die Kamera verlässt Linas Blick aus dem Zug und fängt frontal zwischen Zug und Panzern stehend, die Annäherung unbewegt ein. Der Zug wird langsamer, niemand ist am oder im Zug zu sehen, es gibt keine Gegen wehr, nichts. Noch einmal wiederholt sich dieser Perspektivenwechsel: Lina sieht, als die Panzer direkt am Zug sind, auf einem der Fahrzeuge, das schüchtern mit einem kleinen roten Stern gekennzeichnet ist, eine amerikanische Swingband aufgebaut, ein Drei-Damen-Chor in blut roten Abendkleidern mit weissbefrackten Musikern dahinter. Mit sparsamen Gesten, ähnlich der Stille der Panzer, intonieren sie einen Song. Die Kamera wechselt die Perspektive; in der Steppe, seitlich, sieht die Band auf dem Panzer noch verlorener aus; surreal in ihrer Schlichtheit: wie die Panzerfahrer macht die Band ihren Job. Die Kamera hat Linas Sicht übernommen, sie ist zur Perspektive des ganzen Films geworden.Diese Perspektive ist das Tableau vivant einer der hanebüchenen "Berichterstattungen" Jakobs für die anderen Gettobewohner, einmal während einer Mittagspause in der Zwangsarbeit erzählt, nachdem diese ihn, wie immer mit Fragen nach Neuigkeiten aus seinem Radio gelöchert haben.Jakobs surreale Erfindung (die vor allem von Geräuschen er zählt, die wir im Schluss bild genau nicht hören), deren Dementi Lina vom Dachboden aus mitgehört hat, als Jakob seinem Freund, dem Friseur Kowalsky, endlich klarmachen kann, dass er kein Radio besitzt, wird zur Phantasie Linas und, das ist entscheidend, durch den Perspektivenwechsel zur abschließenden Haltung des ganzen Films zu dem Geschehen. Nicht in Form einer Erzählung, nicht in der einer Imagination, sondern in der Form eines konkreten Bildes. So ist es der Film selbst, der Jakobs "Lügen" schließlich auf den Leim gegangen ist, mehr noch, er ent scheidet sich dafür, die lausigen Fiktionen Jakobs in den Status filmischer Realität zu erheben: Die individuelle Phantasie ist ein kollektiver Wunsch geworden, der den Zuschauer ein schließt.Damit schafft es der Film, 25 Jahre nach seinem Defa-Vorbild Jakob der Lügner von Frank Beyer und Jurek Beker, das historische Faktum des Holocaust zu aktualisieren, indem er ihn von der letzten Szene aus neu erfindet. Beyers Film und Beckers Roman hingegen erden die Fiktion, indem sie sie, mit dem Märchen von der Wolke, die aus Watte ist und die kranke Prinzessin gesund gemacht hat, "nur" als Imagination Linas, die aus der Erzählung Jakobs entsteht, zeigen: Die Fiktion Linas steht gegen die harte Realität von Auschwitz. Was in Beyers Film die Worte imaginieren, kontern die Bilder.Insofern trägt das Remake, ähnlich wie zuvor Roberto Benignis La vita é bella, der die Erklärungen des Vaters für seinen Sohn, wie ein KZ funktioniere, zu seiner Sicht macht und Imre Ker tész' Roman eines Schicksallosen, der gänzlich aus der Perspektive eines halbwüchsigen KZ-Insassen erzählt, einer aktuellen Diskussion Rechnung: Dass hinter der Kenntnis der historischen Fakten immer die Frage steht, wie sie aktualisiert werden können. Das ist die schmerzliche Aufgabe, eine Art Pädagogik, begreifen zu müssen, dass die Erinnerung an den Holocaust als Erinnerung per se fiktionale Züge trägt und deshalb, um nicht totes Wissen zu werden, immer wieder neu erzählt werden muss.Um dieses Dilemma handelt es sich auch bei der derzeitigen Debatte um die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie zeigt, dass die Dokumente für sich allein nichts aussagen: Wer als interessierter Laie durch diese Ausstellung geht, entziffert die zahlreichen Fotos aufgrund ihrer Bildunterschriften, nicht, weil er irgendetwas auf diesen Bildern erkennen, geschweige denn etwas erfahren könnte.Kassovitz' und Benignis Film wie auch Kertész' Roman arbeiten genau aus dieser Blickrichtung: Sie machen den Holocaust aktuell, indem sie eine neue Perspektive auf ihn erfinden, die eine Erfahrung, vor, nach oder neben dem Wissen um den Holocaust erst ermöglicht. Das ist umso erstaunlicher, als sowohl Kassovitz wie auch Kertesz selbst KZ-Erfahrung haben. Trotzdem betrachten sie, wie auch Benigni, die historischen Fakten neu, indem sie einen unerhörte Blickwinkel wählen, einen kindlichen, der nicht in einer Figur aufgeht, sondern die ganze Erzählhaltung bestimmt.Sicherlich ist Kassovitz' Jakob the Liar kein Autorenfilm. Die Off-Musik ist für die Emotionen zuständig, ein Hollywoodstandard seit Coppolas Apocalypse Now. Darauf baut die Inszenierung der Figuren, die auf eine die Protagonisten, allen voran Robin Williams als Jakob Heym, begleitende Einfühlung angelegt ist: Da tut es dann gut zu sehen, dass auch ein geborener Feigling, ein Schwätzer, umständehalber zum Helden durch Schweigen werden kann. Die "compas sion", die Mitleidenschaft mit den Figuren aber ist überhaupt die Grundlage, auf der die überraschende Wendung zum Schluss des Films im Rahmen eines konventionellen Erzählkonzepts so funktionieren kann, dass man sie kaum bemerkt.Auf eine gerade nicht stoffbezogene Art und Weise kommt so das große Vorbild des amerikanischen Kinos, Steven Spielberg, ins Blickfeld. Es ist dessen meisterhafte Art, Geschichten nur durch Bilder zu erzählen, die aus wechselnden Perspektiven kommen, ja die Geschichten aus diesen Bildern erst entstehen zu lassen, die bei Kassovitz Pate gestanden haben könnte. Leider versagt diese Fähigkeit Spielbergs vollständig, gerade wenn er sich geschichtsträchtiger Stoffe, wie in Schindlers list und Saving private Ryan bedient.Kassovitz beweist diese Fähigkeit auch mit der Inszenierung des Selbstmordes einer von ihm im Verhältnis zur Vorlage hinzuerfundenen Figur: Prof. Blumenthal, gespielt von Armin Müller-Stahl, als "weltberühmter Kardiologe" zum herzkranken Lagerleiter ins Hauptqartier des Gettos bestellt, bringt sich vor den Augen der SS-Offiziere mit einer Kapsel Strychnin um, als er merkt, dass er auch bestellt ist, um den Besitzer des Radios preiszugeben. Die Bildironie liegt in der Gestik dieses Selbstmords: Sie zitiert das probate und exklusive Selbstmord mittel der Täter und erobert so dem Opfer eine Handlungsmächtigkeit zurück, die erst durch den Blick des Zuschauers zu einer Geste wird, die im Moment ihres Entstehens die historischen Fakten umdeutet und dadurch aktualisiert. Denn anders als bei den zahllosen, beissenden Witzen, die die Gettobewohner im Laufe des Films machen, wird hier Geschichte nicht dokumentiert, sondern neu geschrieben.Dass die Geschichte der Wünsche, als historisches Faktum ebenso gültig wie die offizielle Geschichtsschreibung, ungeschrieben ist und gleichwohl kollektiven Status beanspruchen kann, das inszeniert Kassovitz' Jakob the liar. Leben heisst nicht über leben.
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