Kotzende Frauen. Spitzenreiter der stereotypen Handlungen in deutschen Filmen dieses und des vergangenen Jahrgangs sind Frauen, die sich übergeben müssen. Statistisch gesehen. Danach kommen Autofahren und Rauchen, auch meistens von Frauen dargestellt, mitunter gibt es Kausalitäten. Bei den Aktualitätsbezügen vornan stehen die totale Sonnenfinsternis (angeschaut mit den korrekten, aber stets ausverkauften Brillen; jetzt weiß man warum) und der Kosovokrieg am Bildschirm oder aus dem Radio - außer bei Thomas Heises Neustadt/Stau taucht in den etwa 25 deutschen Filmen, die ich im Rahmen der Berlinale gesehen habe, übrigens keine einzige Zeitung mehr auf, geschweige denn, dass jemand eine lesen würde. Handys sind, selbst beim Yuppie-scum in Rudolf Th
Thomes Paradiso filmrealitätsuntauglich; man hört sie nicht einmal bei Nebendarstellern klingeln.In der Stadtstatistik rangiert natürlich Berlin ganz oben, mit allem an Bildern, was man als Postkarten so kaufen kann: Der Blick von der Oberbaumbrücke nach Mitte, die rangezoomte Fernsehturmkugel ebenso wie die Reichstagskuppel immer im tiefen Blau der Dämmerung und, bestimmt ein dutzendmal, die drei elliptischen Stahlglas-Bürohäuser an der Jannowitzbrücke. Dazu wächst immerhin noch zweimal im Zeitraffer der Potsdamer Platz aus der Sicht der Häuser am Leipziger Platz.Was die wenigen interessanten Filme der deutschen Jahresproduktion ausmacht, ist ihr genaues Hingucken: nicht auf die ganze Zeitgenossenschaft, sondern auf die eigenen Figuren, deren Ausstattung und Geschichte, deren Sprache und Gesten und was sie in Bildern taugen.Heinrich Himmlers Rede Im Dokumentarfilm setzen Romuald Karmakars Das Himmler-Projekt und Thomas Heises Neustadt/Stau - Der Stand der Dinge Maßstäbe. Das Himmler-Projekt rekonstruiert die bisher nur in Ausschnitten bekannte, gleichwohl immer wieder zitierte Rede des Reichsinnenministers Heinrich Himmler bei der SS-Gruppenführertagung am 4. 10. 1943. Karmakar inszeniert diese Rede, indem er den Schauspieler Manfred Zapatka in schwarzer Kleidung an einen Tisch in neutraler Studioatmospäre setzt und diesen vom Blatt vortragen lässt. Das ist von wenigen, immer statischen Kameraeinstellungen aufgenommen. Die Sprache Zapatkas ist sehr zurückhaltend, aber pointiert, verwandelt sich dem Text mehr und mehr an - und so passiert es, dass ganz allmählich das Wissen um die ungeheuerliche Logik der Rede des Organisators der »Endlösung« und damit die Distanz zu dem Text sich in der klaren, überzeugenden Stimme des Schauspielers auflöst; die Stimme verleiht der Rede einen Wirklichkeitsstatus, der zur ernsthaften Auseinandersetzung verleitet. Diesen bedrohlichen Sog kontert Karmakar, indem er das Inszenierte der Rede mittels nicht geschnittener Versprecher und dadurch hervorgerufenen Wiederholungen Zapatkas präsentiert und auch die Umstände der Rede, die Pausen, die Zurufe aus der Hörerschaft vom Schauspieler mitsprechen lässt. Karmakar hat für diese Arbeit ein sehr schönes Wort gefunden: es gehe ihm um »Rekonkretisierung« der Rede: aus den imaginären Archiven der Köpfe entlassen, fordert ihre Aufführung Aufmerksamkeit.Wie lebt es sich in Halle-Neustadt?Thomas Heise hingegen gibt der Familie, die er interviewt, erst durch seinen Film eine Geschichte: Die Skins aus seinem Film Stau. Jetzt gehts los von 1992 sind in Halle-Neustadt erwachsen geworden, haben Arbeit oder Lehrstellen oder hoffen drauf. Sie sind, zumindest wenn man Stau seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hat, nicht wiederzuerkennen in ihrer Normalität. Wie bei einer Lochblende, die ganz allmählich die Dimensionen eines Bildes eröffnet und dadurch seine Koordinaten und Bezüglichkeiten immer wieder verschiebt, verstehen wir allmählich immer mehr der Details, die die Protagonisten erzählen. Am prägnantesten ist diese »Refiktionalisierung« der Lebensläufe durch den dramaturgischen Aufbau des Films bei Konrad. Er ist einer der Interviewten und erscheint zunächst als relativ sprachgewandter Arbeitsloser ohne Geld, der suggeriert, er habe als Postler Schwierigkeiten bekommen, weil er in den Pausen Bücher statt Bildzeitung las. Später im Film hat er einen »Auftritt« vor der Kamera in Anzug und mit Pfeife als Landeschef des »freiheitlichen Volksblocks« Sachsen-Anhalt, als dessen Mitglied im Bundesvorstand er in Halle-Neustadt Kameradschaftsabende mit Jugendlichen veranstaltet. Da spricht er, wie Haider, vom 3. Weg und von autoritären Strukturen.Angesichts der Kamera versuchen die Protagonisten immer mediengerecht zu sprechen, jeder wie ein Politiker in eigener Sache. Dabei offenbart sich, wie hilflos sie diesem Popanz ausgeliefert sind, sodass hinter dem Sprechen eine große Sprachlosigkeit sichtbar wird. Ein erschreckender Sprachgestus wird hier dokumentiert. Auf Heises Frage, wie es sich in Halle-Neustadt lebt, ist die Antwort Schweigen.Der Film Blumen lieben oben von Erwin Michelberger und Oleg Tcherny steht inszenatorisch zwischen Himmler-Projekt und Neustadt. Das Thema, der Tod eines Mädchens aus einem schwäbischen Dorf im Jahre 1979, ist nur der Auslöser einer vielschichtigen Reflexion auf die Erinnerung an Heimat und Fremde und die Abstände dazwischen. Diese Reflexion berührt zugleich den dokumentarischen Status der Bilder, der Sprache und Töne. Der Film lebt weder von einer verdichteten Inszenierung (Karmakar), noch von der Entfaltung einer Geschichte (Heise), sondern funktioniert wie ein Wurzelwerk, das kein Zentrum hat und eben deshalb darum kreist.Blumen lieben oben gehört mit Werner Schroeters Partitur der Gesichter von Marianne Hoppe in Die Königin, sowie den Spielfilmen The Million Dollar Hotel von Wim Wenders und Fred Kelemens Abendland zu den einzigen Filmen, die im Fernsehformat nicht funktionieren werden. Die anderen deutschen Spielfilme, die Wettbewerbsbeiträge und Gewinner silberner Bären Paradiso von Rudolf Thome oder Volker Schlöndorfs Die Stille nach dem Schuss, genauso wie die herausragenden Debütfilme Fremde Freundin von Anne Hoegh Krohn, Zoe von Maren-Kea Freese und Chill Out von Andreas Struck sind - so ist die Organisation der deutschen Filmwirtschaft - Fernsehproduktionen.Die Schlichtheit des TV-FormatsWas das heißt, fällt am ehesten noch bei Schlöndorf auf; die fast mechanische Abfolge von nahen und totalen Einstellungen, je nachdem ob es um Dialoge oder Handlung geht, offenbart auf der großen Leinwand die Schlichtheit des Fernsehformats wie unter einem Vergrößerungsglas. Das könnte auch thematisch gelten: Wenn der deutsche Terrorismus die unangenehmere Kehrseite des deutschen Kleinbürgertums war, dann zeigt Schlöndorfs Film vor allem eines: Das in der DDR untergetauchte RAF-Mitglied Rita Vogt (Bibiana Beglau) benutzt diese vor allem als Bühne, auf der sie ihre Andersartigkeit, das Geheimnis ihrer Vergangenheit, relativ frei und unbehelligt inszenieren kann. Das spricht aus jeder noch so kleinen Geste der Figur und endet konsequent mit ihrem Auftritt als von Vopos erschossene Bikerin (womit übrigens ihr Mord an einem Pariser Streifenpolizisten auf dem Motorrad »Auge um Auge...« gesühnt ist).Die angenehme Seite des Bürgerlichen ist in Paradiso ästhetisches Programm. Thomes Geschichte eines Mannes, der seinen 60. Geburtstag sieben Tage lang mit den sieben wichtigsten Frauen seines Lebens feiern will, überrascht vor allem dadurch, dass die aus einer solchen Konstruktion notwendig resultierende Katastrophe ausbleibt. Alle Spannungen, Rivalitäten zwischen den Frauen, der Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn und so weiter sind immer anwesend, doch gebändigt durch eine Wohltemperiertheit aller Elemente und Formen. Das reicht von der Leichtigkeit der Dialoge, die weder dumm noch tiefgängig sind, bis hin zu der harmonischen Abstimmung der Farben, so als wäre der Ausstatter mit Goethes Farbenlehre herumgelaufen. Ein Stück deutsche Romantik mit einem impressionistischen Anstrich.Diese Konstellation ist einzigartig und vielleicht deshalb auch so erfrischend, weil das übliche Personal einmal nicht aus drückend alkoholabhängigen DJs besteht, die koksend an ihrem ersten Roman über die an Aids gestorbenen heterosexuellen Freundinnen schreiben und deren Kinder versorgen müssen.Das Debüt Fremde Freundin zeichnet sich vor allem durch ein genau konzipiertes Verhältnis von Schauspiel und Kamera aus: Inga Busch und Karoline Eichhorn sind Freundinnen. Letztere hat wegen Totschlags am Freund der anderen 5 Jahre im Gefängnis gesessen. In einer klaustrophobischen Stimmung, wie man sie von Patricia Highsmith Roman Carol kennt, inszeniert der Film die Wiederannäherung der beiden Frauen als Kampf um Wahrheit und Identität: in der Rekonstruktion des eigentlichen Mordes werden sich die beiden äußerlich so unterschiedlichen Figuren allmählich immer ähnlicher. Fremde Freundin überzeugt mit einer fast konservativen Unaufgeregtheit in Sachen Zeitgeist, woran Zoe und Chill Out, auch Beziehungs(losigkeits)dramen, ein wenig kranken.Und dann kommt Wüste: Fernsehkost, weil man da umschalten oder vorspulen kann - dürre Bilder, vollgestopft mit Ideen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Frauen dieses Jahr so häufig kotzen mussten auf der Leinwand.
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