Frontal liegt ein Torso im Gras, übersät mit blutverkrusteten Wunden; die größte ist eine unbehaarte Vagina, der Torso ist der Unterleib der Leiche eines Mädchens. Es ist still. Wächsern schimmert die Haut, auf der eine Fliege läuft. Fatal erinnert dieses Einstellung an die künstlichen und doch so wahrhaftig zu- und hergerichteten Körperteile von Cindy Sherman in ihrer Serie Sex Pictures vom Beginn der 90er Jahre.
Die Flucht einer leicht ansteigenden, kleinen Straße, verklinkerte Häuser rechts und links; das Grau von Asphalt und Bürgersteig ist rein. Der Mann läuft entlang dieser Straße in den Bildvordergrund; er geht mit hängenden Schultern. Alles an ihm ist demütig. Im Umschnitt ist sein Ziel, eine junge Frau
l, eine junge Frau zu sehen, ihr Gesicht ist grob geschnitten, die Kleidung betont den kräftigen Körper; alles an ihr ist vulgär. Nah bei ihr flüstert der Mann: "Wir haben die Leiche eines vergewaltigten Mädchens gefunden." Sie starren geradeaus. Dann sagt sie: "Wie ekelhaft das Leben ist." Er geht ins Haus. Sie geht ins Haus nebenan. Sie sind Nachbarn.Die Nachbarin kriegt Besuch von einem jungen Mann. Alles an ihm ist kernig. Ohne Umschweife nimmt er sie auf dem Boden ihres Wohnzimmers, in dem alles seinen festen Platz hat; nicht einmal im Strahl des plötzlich durch die halbgeschlossenen Rolläden einfallenden Sonnenlichts fliegen Staubteilchen. Versehentlich kommt Pharaon de Winter, der Nachbar, leise herein. Er starrt auf die kopulierenden Körper; Domino, die Nachbarin, schaut zurück; ihr Blick vibriert unter den Stößen von Joseph. Keuchen ist zu hören.Pharaon isst in seiner Küche, die wie seine Mutter blitzblank alt geworden ist, einen Apfel. Er verschluckt sich. Jäh springt er auf, ringt nach Luft, keucht ekelhaft, spuckt ins Spülbecken. Dann ist es wieder still. Eine Fliege läuft auf seinem T-Shirt Kreise.Die Mutter ruft Pharaon zum Frühstück. Er hat in seinem Bett gelegen, vermutlich hat er onaniert, dabei hat er das Selbstporträt eines alten Mannes, seines gleichnamigen Urgroßvaters angesehen. Vor der Haustür fragt ihn Joseph, der seine Freundin Domino ans Auto gelehnt hat: "Na, gut gewichst heute Morgen?" Pharaon, sein Bekannter, starrt ihn an; geht er zum Dienst oder in den Schrebergarten der Mutter? Domino zischt Joseph zu, er sei gemein, habe Pharaon erst vor einiger Zeit Freundin und Kind verloren. Verstohlen schauen sie ihm hinterher.Joseph, Domino, und Pharaon, rasen zum Abendessen in ein Restaurant. Die Sauflieder einer Gruppe besetzen mit ihren Anzüglichkeiten den ganzen Raum und die anderen Restaurantgäste. Joseph explodiert.Bei einem Streik stehen sich der Polizeileutnant Pharaon und die Arbeiterin Domino gegenüber; er schützt den Bürgermeister, den sie mit ihrer Abordnung sehen will. Später sucht Pharaon Domino zu Hause auf. Er geht auf ihr Zimmer. Sie ist wütend auf ihn. Er sieht sie an. Sie entkleidet sich, reibt langsam und kräftig an ihrer Vagina. Pharaon wendet sich ab und geht nach Hause: nach nebenan. Nah liegt ein Torso im Bett, der Unterleib von Domino. Zwischen ihrem brünetten Schamhaar glänzt die geöffnete Vagina. Diese Einstellung zitiert bis in die Lichtgebung hinein Gustave Courbets berühmtes Bild Der Ursprung der Welt von 1866. Es markiert das andere Ende eines Bogens, der mit dem Torso des toten Mädchens begann, dem ÂEnde der WeltÂ, wahrhaftig wie bei Sherman. Im Schrebergarten reibt Pharaon langsam und kräftig die Köpfe der Dahlien.Schleichend vergiftet L'humanité, der zweite Spielfilm des Werbefilmers Bruno Dumont, den Blick des Zuschauers. In das Betrachten der losen Szenenfolge, die vor allem durch Farben und Formen verbunden ist, sickert unmerklich das Bild des vergewaltigten und ermordeten Mädchens. Es belädt jede noch so kleine Geste mit der Möglichkeit, Indiz zu sein. Irgendwann beobachtet man die Figuren nicht mehr nur, man observiert sie: Jeder ist verdächtig, gerade die Unverdächtigen. Genau dieser Blickverschiebung korrespondiert die Länge der einzelnen Szenen, die Gleichgültigkeit mit der sie in Bezug auf die Aufklärung des Mordes montiert sind. Die fehlende Spannungsdramaturgie scheint der Demut des Protagonisten Pharaon verwandt. Aber dadurch, dass es lange dauert, bis überhaupt klar wird, dass er Polizeileutnant ist und mit der Aufklärung des Falles betraut, den er und sein dicker Chef nicht lösen können, fällt auch er unter den observierenden Blick. Nicht über die Identifikation mit den Figuren also bindet der Film, sondern indem er den Zuschauer die gezeigten Sequenzen zu Mißtrauen und Ekel synthetisieren lässt. Im Gegensatz zu Dumonts Erstling La vie de Jesus von 1997 gibt es im neuen Film die perfekte Welt der L'humanité, der großen kommunistischen Zeitung Frankreichs: Alle Protagonisten haben eine Arbeit, Geld, ein Zuhause, Freunde und Familie. Die soziale Gemeinschaft ist intakt, den bestialischen Mord gibt es trotzdem.So schafft der Film eine Atmosphäre, die die Basis für den folgenden Wandel ist: Als Pharaon nach all den erfolglosen Recherchen auf sein Revier kommt, sind viele fremde Polizisten da. Die Kollegen aus der Kreisstadt Lille haben den Mörder gefangen. Pharaons stets bemühter Chef beauftragt ihn, den Vergewaltiger und Mörder wenigstens zu bewachen. Pharaon geht in das kleine Chefbüro zu ihm, der dort weint. Er richtet ihn auf, umarmt ihn wie einen Freund; er streichelt sein Gesicht; dabei ist er dem Mörder so nah, dass daraus fließend ein brüderlicher Kuss wird. Doch Pharaons Lippen spüren diesem Kuss nach, sie verweilen auf den Lippen des Anderen, setzen erneut zu einem Kuss an: dabei schiebt sich Pharaons Zunge langsam in dessen Mund; die Körper nähern sich nicht. Zuvor hatte Pharaon auf ganz ähnliche Weise einen geständigen algerischen Dealer behandelt. Von hier aus stellt der Film den vergifteten Blick in Frage: Was soll diese "Perversion", wenn Pharaon gar nicht das stille Monster ist? Wir erleben eine Metamorphose der Gesten als Gegengift. Aus der sozialen Geste, der Umarmung, dem brüderlichen Kuss, der auch die gleiche bürgerliche Herkunft, das gleiche Schicksal von Polizist und Mörder meint, wird der Zungenkuss, eine intime Geste. Diese löst sich von der Figur des Pharaon: sie, der Mörder, der Kuss werden zu einer Allegorie; entgegen des Geständnisses, entgegen der grauenvollen Offensichtlichkeit der Tat, entgegen dem Glauben an das Sichtbare "liebt" er den Vergewaltiger und Mörder bedingungslos. Das ist großes Gefühlskino.Ein solches Ringen um Pathos gab es zuletzt bei Rilke, Anfang letzten Jahrhunderts, der in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge die Liebe eines Heiligen beschrieben hat: "Es kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzenswärme der Liebesnächte (...)" Hier wie da geht es um die absolute Liebe, jenseits des Sexus. Rilke bezieht sich dabei auf Flauberts Erzählung vom Saint-Julien-l'Hospitalier, einer mittelalterlichen Heiligenfigur aus Nordfrankreich; etwa von da, wo Dumonts L'humanité spielt. Flaubert ist Zeitgenosse von Courbet und auch von Pharaon de Winter, dem Maler und gleichnamigen Urgroßvater der Filmfigur. Gemeinsam ist den Schriftstellern, Malern und der Fotografin, dass ihre Ausdrucksweise pathetisch ist. Bei Dumont wirkt das Pathos des beschriebenen Gestenwandels nicht befremdlich, wenn man die Tragweite seines Projektes bedenkt: Er setzt dem Glauben an das Sichtbare, der die Voraussetzung für den vergifteten Blick war, den Glauben an das Unsichtbare entgegen und speist diesen Glauben durch die ikonographischen und literarischen Spuren, in denen es je um die Möglichkeit der Transzendierung des Körpers und der Sexualität in der Kunst geht: Das Bild des Körpers, seiner Geste, seines Sex ist dann nicht Abbild, sondern Gedanke, eine Allegorie. Die Frage ist: kehrt das Religiöse in die Kunst zurück wie das Politische? Kehrt sich Foucaults These um: Ersetzt die Predigt bald wieder das Sprechen über den Sex und damit die Wahrheit über die menschliche Natur, die Menschheit, die Menschlichkeit?
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